indstille  Wir näherten uns den von den alten Seefahrern so gefürchteten Roßbreiten, einer Zone, in der die Winde beider Hemisphären stillstehen, so daß die Segel wochenlang schlaff herunterhingen, von keinem Windhauch gebläht. Die Luft ist hier so reglos, daß man meint, sich in einem geschlossenen Raum und nicht auf hoher See zu befinden; dunkle Wolken, deren Gleichgewicht keine Brise stört, senken sich, einzig der Schwerkraft gehorchend, aufs Meer und lösen sich auf. Mit ihren nachschleppenden Rändern könnten sie die glatte Fläche des Wassers fegen, wären sie dazu nicht viel zu träge. Auf dem Ozean, den die Strahlen einer unsichtbaren Sonne indirekt beleuchten, liegt ein öliger, eintöniger Schimmer, der den des tintenschwarzen Himmels übertrifft und das übliche Verhältnis der Lichtwerte zwischen Luft und Wasser umkehrt. Neigt man den Kopf zur Seite, so nimmt ein glaubhafteres Seegemälde Gestalt an, in dem Himmel und Meer sich gegenseitig ersetzen. Über diesen Horizont, den die Passivität seiner Elemente und die gedämpfte Beleuchtung sehr traulich erscheinen läßt, irren träge ein paar Böen, niedrige und unscharfe Säulen, die den Abstand zwischen Meer und Wolkendecke noch weiter verringern. Zwischen diesen beiden aneinandergrenzenden Flächen gleitet das Schiff in ängstlicher Hast dahin, als wäre ihm die Zeit bemessen, dem Erstickungstod zu entrinnen. Zuweilen nähert sich eine Böe, verliert ihre Konturen, umhüllt das Schiff und peitscht das Deck mit nassen Schnüren. Dann findet sie auf der anderen Seite zu ihrer sichtbaren Form zurück, während ihre lautliche Erscheinung sich verflüchtigt.

Alles Leben auf dem Meer war erstorben. Man sah nicht mehr am Bug die schwarze Brandung der Delphinenschwärme, die, hart und rhythmischer als der schäumende Strudel des Kielwassers, anmutig an diesem fliehenden Streifen der Wellen vorüberzog. Kein Wasserstrahl eines Tümmlers durchschnitt mehr den Horizont; und keine Nautilus-Flottille mit ihren zarten malve- und rosafarbenen Pergamentschleiern bevölkerte mehr das tiefblaue Meer.

Würden uns auf der anderen Seite des Grabens noch all jene Wunderdinge empfangen, von denen die Seefahrer vergangener Jahrhunderte berichten? Als sie jungfräuliche Gebiete durchstreiften, dachten sie weniger daran, eine neue Welt zu entdecken, als die Vergangenheit der alten Welt bestätigt zu finden, der Welt von Adam und Odysseus. Als Kolumbus auf seiner ersten Reise auf den Antillen landete, glaubte er vielleicht, Japan erreicht, aber mehr noch, das irdische Paradies wiedergefunden zu haben. Und die vierhundert Jahre, die seitdem vergangen sind, können gewiß nicht jenen großen Zeitabstand aufgehoben haben, dank dem die Neue Welt zehn- oder zwanzigtausend Jahre lang von den Wirren der Geschichte verschont geblieben ist; auf einer anderen Ebene muß etwas übriggeblieben sein. Und tatsächlich sollte ich bald erfahren, daß Südamerika zwar kein Garten Eden vor dem Sündenfall mehr war, aber daß dieser Kontinent es noch immer diesem Geheimnis verdankte, ein Goldenes Zeitalter geblieben zu sein, zumindest für Leute, die Geld hatten. Doch sein Glück war im Begriff zu schmelzen wie Schnee an der Sonne. Was ist heute davon übriggeblieben? Nur noch ein kostbarer kleiner Rest, zu dem einzig die Privilegierten Zugang haben, hat sich dieses Glück auch in seinem Wesen verändert: das Ewige ist historisch geworden und das Metaphysische sozial. Das Paradies der Menschen, das Kolumbus zu erblicken wähnte, setzt sich fort im süßen Leben, das nur den Reichen vorbehalten ist, und geht zugleich daran zugrunde.

Der rußdunkle Himmel der Roßbreiten, ihre drückende Atmosphäre sind nicht nur das sichtbare Zeichen des Äquators. Sie künden auch von dem geistigen Klima, in dem zwei Welten einander begegnet sind. Dieses düstere Element, das sie scheidet, jene Meeresstille, in der die bösartigen Kräfte sich lediglich zu erholen scheinen, sind die letzten mystischen Schranken zwischen dem, was gestern noch zwei Planeten waren, deren Lebensverhältnisse sich so sehr voneinander unterschieden, daß die ersten Augenzeugen nicht glauben mochten, daß beide gleichermaßen menschliche Welten waren. Ein von Menschen kaum berührter Kontinent bot sich Menschen dar, deren Gier sich nicht länger mit dem eigenen zufrieden geben konnte. Alles sollte durch diesen zweiten Sündenfall von neuem in Frage gestellt werden: Gott, Moral, Gesetze. Alles sollte, gleichzeitig und widersprüchlich, de facto bestätigt, de jure aber widerrufen werden. Bestätigt fanden sie den Garten Eden der Bibel, das Goldene Zeitalter der Antike, den Jungbrunnen, Atlantis, die Hesperiden, die Hirtenidylle und die Inseln der Seligen; aber es kamen ihnen auch Zweifel beim Anblick einer reineren und glücklicheren Menschheit (die dies sicher nicht wirklich war, aber den schon von geheimen Gewissensbissen geplagten Eroberern so erschien), Zweifel an der Offenbarung, am Heil, an Sitte und Recht. Niemals zuvor hatte die Menschheit eine so erschütternde Erfahrung gemacht und niemals mehr wird sie eine ähnliche durchleben, es sei denn, daß eines Tages ein anderer Globus auftaucht, Millionen von Kilometern vom unseren entfernt und ebenfalls von denkenden Wesen bewohnt. Immerhin wissen wir heute, daß solche Entfernungen theoretisch zu überwinden sind, während die ersten Seefahrer fürchteten, dem Nichts zu begegnen. - (str2)

Windstille (2)  
 
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