Gind, seltsamer  Ich schlug, von hinten beginnend, gleich das Pfingstkapitel auf: da war ein Bild der versammelten Jünger. Alle hoben sie die Köpfe; die in der Mitte gerade empor, die an den Seiten schräg. Es war eine wunderbare, mitnehmende Gemeinsamkeit in dieser Kopfbewegung. An ihren Händen und Gewändern war zu merken, welch seltsamer Wind den Raum erfüllte, und über den Köpfen waren Flämmchen, feurige Zungen, wie es im Text hieß. Es waren des Geistes Zungen, die sich auf jeden von ihnen gesetzt hatten, Feuerflocken schlängelnd im Wind, wie eine offene Gasflamme schlängelt, wenn die Tür aufgeht. Doch nicht so düster-grell, nein, hell wie Hermelinflocken auf Königspurpur. Des Geistes Zungen. Zunge, wußt ich schon, war bei den Alten dasselbe Wort wie Sprache. Und so begriff ich, daß die Feuerzungen zu brennenden Worten wurden auf den Lippen der Jünger. Sie konnten sie nicht bei sich behalten, die Worte, die ihre Lippen brannten. Mitteilen mußten sie sie und brannten doch, weiter wie Flamme, an der sich Flamme entzündet. Von denen, an die sie mitteilten, von den Völkern waren an den unteren Rändern des Bildes Köpfe zu sehen. Und ich wußte aus dem Bibeltext: sie entsetzten sich, die da versammelt waren und sprachen: »Wie hören wir denn ein jeglicher seine Sprache, darinnen wir geboren sind? Parther und Meder und Elamiter und die wir wohnen in Mesopotamien, Kappadozien und Asien, Phrygien und Pamphylien und an den Enden der Lybien bei Kyrene.« Ich hatte damals viel Freude an solchen Aufzählungen und genoß die Häufung. Ich flüsterte mir die fremden Völkernamen, und mit Wortgebilden auf den Lippen, die mir nicht viel mehr als Klänge waren, und beim Anblick der feurigen Zungen, deren Feuer nicht einmal farbig war, sondern nur Glanzlicht zwischen Schattierungen, fühlte ich in diesem Kindheitsaugenblick deutlich, was das war, was das ist: Geist. Geist, der überkommt, ergreift, sich mitteilt: Begeisterung. Kommt, da ist und doch nicht bleibt, züngelnd kommt und weitergeht. Dem, der ihn hat, nicht zu eigen. Der kann ihn nicht besitzen, er wird selbst vom Geiste besessen. Luftförmig ist dieser Geist, gasförmig. Und er wird ein Zustand des Leibes, über den er gekommen ist. Greifbar ist er nicht und doch leiblich. Damals im Kinderfieber wußte ich: Geist Kann man nicht haben, man kann von ihm gehabt werden, man kann Geist sein.  - Franz Hessel, Ermunterung zum Genuß. Berlin 1981
 
 

Wind Seltsam

 

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