Wille, freier »Tirol ist keine Gegend für mich, ich bin ein Mann aus dem Flachland. Wenn ich auf  einem Berg  stehe,  brauche ich mindestens  zwei Freunde, die mich zurückhalten.« » Zurückhalten ?«

»Ja. Denn sofort stelle ich mir die Frage: Was wäre, wenn ich kopfüber in die Tiefe spränge? Wie gut es doch ist, daß mich meine Freunde schön festhalten! Denn andernfalls würde ich womöglich der Versuchung nachgeben. Ich habe den Eindruck, daß ich mir einerseits diese verfängliche Frage stelle, mich also scheinbar auf meinen freien Willen berufe, daß aber andererseits die positive Antwort im voraus die Frage determiniert.« »Verzeih, aber hast du außer in Tirol, auf den Bergen, niemals einen solchen Zustand erlebt, der dich zu dem gleichen Entschluß zu zwingen schien?« »Soweit ich zurückdenken kann: nein. Ich verstehe übrigens nicht, was du unter solchen Zuständen verstehst.«

»Überleg mal: Zustände von Objekten.« »Oh ja. Natürlich. Ich mag zum Beispiel keine Schere ansehen, vor allem nicht, wenn sie geöffnet ist.« »Ganz recht. Und wie reagierst du auf Bindfäden?« »Bindfäden?«

»Bindfäden. Und Schlipse, Selbstbinder?« »Davon weiß ich nichts. Wahrscheinlich haben Schlipse auf mich keinen besonderen Einfluß.« Weißbinder schien entmutigt. Er drückte die Zigarette aus und begann seinen Bericht, auf den ich seit dem Vortag gewartet hatte.

»Ich werde von meinem Schlips verfolgt. Wie es eben Mode ist, trage auch ich einen Selbstbinder. Ich gäbe gottweißwas dafür, wenn sich in puncto Schlipse die Mode änderte. Nun gut, die Situation ist nun einmal so, daß es unmöglich ist, einen konfektionierten Schlips zu tragen. Deshalb trage ich Selbstbinder. Weißt du, was das für mich bedeutet? Jeden Morgen führe ich aufs neue einen Kampf mit mir selbst. Ich kann keine Schleife machen, ohne daß diese Handlung in mir den Wunsch weckt, die Schleife zuzuziehen. Und genauso wie bei dir äußert sich dieses Nervenleiden in einer zynischen Probe meines freien Willens - was passierte, wenn ich den Knoten zuzöge? Bis vor einem Jahr war das, was man den Selbsterhaltungstrieb nennt, stark genug, um die Krise aufzuschieben. Dann mußte ich in die Tropen reisen. Ich denke, dir ist jetzt auch klar, weshalb ich gestern so eingehend darüber gesprochen habe, daß man in den Tropen keine Schlipse, also auch keine Selbstbinder kennt. Man trägt dort nicht die Schlinge um den Hals.«  - Paul van Ostaijen, Grotesken. Frankfurt am Main 1967 (es 202, zuerst 1926)

Wille, freier (2)   Wenn Gott die Sünden will, so wird er sie folglich bewirken, denn es steht geschrieben: »alles, was er will, bewirkt er.« Wenn er sie nicht will und sie trotzdem begangen werden, so müssen wir ihn entweder für nicht voraussehend oder für nicht allmächtig oder für grausam erklären; da er dann seinen Ratschluß nicht durchführt, sei es durch Unwissenheit oder Ohnmacht oder Nachlässigkeit. - - - - Die Philosophen sagen: wenn Gott nicht wollte, daß die schändlichen und niederträchtigen Handlungen in der Welt bestünden, so würde er ohne Zweifel mit einem Winke alle Schandtaten aus der Welt verbannen und; vernichten. Denn wer von uns wäre imstande, dem göttlichen Willen zu widerstehen? Wie sollten die Verbrechen gegen Gottes Willen vollbracht werden, wenn er doch bei jeder sündigen Handlung dem Verbrecher die Kraft dazu verleiht? Ferner, wenn der Mensch entgegen dem Willen Gottes strauchelt, so ist also Gott schwächer als der Mensch, der sich ihm widersetzt und obsiegt. Hieraus ergibt sich, daß Gott die Welt so will, wie sie ist, und daß, wenn er eine bessere Welt haben wollte, er eine bessere haben würde. - Und weiter heißt es bei Vanini: Das Werkzeug wird so bewegt, wie es von seinem Besitzer gelenkt wird; aber unser Wille verhält sich bei seinen Verrichtungen wie ein Werkzeug, Gott hingegen wie das eigentliche Handelnde; wenn folglich der Wille schlecht handelt, so trägt Gott daran die Schuld. - - - Unser Wille hängt nicht nur nach seinem Wirken, sondern auch nach seinem Wesen ganz von Gott ab. Es gibt also nichts, was man in Wahrheit dem Willen schuld geben könnte, sei es nach seinem Wesen oder seinem Wirken, sondern man muß alles nur Gott schuld geben, welcher den Willen so geschaffen hat und in Bewegung setzt. - - - - Da das Wesen und die Betätigung des Willens von Gott herrühren, so müssen diesem die guten wie die bösen Wirkungen des Willens zugerechnet werden, wenn nämlich der Wille sich zu ihm verhält wie ein Werkzeug. - Vanini, nach Schopenhauer, Preisschrift über die Freiheit des Willens

Wille, freier (3)   Zwar weiß ich wohl, es gibt keine Hexenkünste auf Erden, die den Willen zu lenken und ihm Gewalt anzutun vermögend waren, wie etliche einfältige Leute glauben; ich weiß, daß unser Wille frei ist und daß es weder Kräuter noch Zaubereien gibt, die ihn zu irgend etwas zwingen können. Es ist unmöglich, dem Willen Gewalt anzutun.  - Cervantes, nach dem Nachwort zu (don)
  
 

Wille Determinismus Freiheit

 

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