Wiederentdeckung   Zu der Zeit, da Bland bei ihnen einstieg, waren die Freimaurer schon längst zu einem Klub für Geschäftsleute degeneriert, einem von vielen. Eine wahre Schande. Geschäfte und Geschäftigkeiten hatten, durch die Jahrhunderte, gewisse Sinnesrezeptoren und Regionen des menschlichen Gehirns verkümmern lassen, so daß die maurerischen Rituale für die meisten, die jetzt an ihnen teilnahmen, nicht mehr und vielleicht weniger bedeuteten, als hohler Mummenschanz. Doch es war nicht bei allen so. Hin und wieder kam es zu einem Rückfall. Einer davon war Lyle Bland.

Die Magie in diesen maurerischen Ritualen ist alt, sehr alt. Und damals, in jenen längst vergangenen Tagen, funktionierte sie. Als die Zeit verging und der Ritus zu einem Spektakel wurde, das nur noch konsolidieren sollte, was langst weltliche Erscheinungsformen von Macht waren, begann sie, ihren Biß zu verlieren. Aber die Worte, die Gesten, die Dramaturgie sind doch mehr oder minder getreu durch die Jahrtausende, die wütende Rationalisierung der Welt, überliefert worden, und so ist die magische Kraft, wenn auch latent, immer noch vorhanden, angewiesen nur auf den richtigen, sensitiven Kopf, um neu zu wirken.

Bland begann, wenn er spät in der Nacht von den Zusammenkünften nach Beacon Hill zurückkam, an Schlaflosigkeit zu leiden. Er streckte sich auf dem Sofa in seinem Arbeitszimmer aus, versuchte, an nichts Besonderes zu denken, und fuhr plötzlich wie vom Blitz getroffen hoch, mit hämmerndem Herzen, ganz sicher, eben irgendwo gewesen zu sein, doch unfähig, die Zeit abzuschätzen, die währenddessen vergangen war. Die alte American-Empire-Uhr schlug in der hallenden Diele. Der Girandole-Spiegel, ein generationenaltes Erbstück, sammelte Bilder in seinen Quecksilbersee, in die zu blicken Bland nicht den Mut fand. Aus einem Nebenzimmer hörte er seine Frau, varikös und gläubig, im Schlaf stöhnen. Was war es, das hier mit ihm passierte?

Nach dem nächsten Tempelabend, wieder daheim auf dem gewohnten Sofa, im Wall Street Journal keine Neuigkeiten, die er nicht schon kannte, erhob sich Lyle Bland, das Gesicht zur Decke gewandt, etwa einen Fuß hoch über seinen Körper, bemerkte, wo er sich befand, und gaahh! wutsch nichts wie zurück! Er lag auf dem Rücken und war entsetzter als je zuvor m seinem Leben, als selbst im Wald von Belleau - nicht so sehr, weil er seinen Körper verlassen hatte, sondern weil er wußte, daß es nur ein erster Schritt war. Der nächste würde darin bestehen, sich in der Luft umzudrehen und zurückzuschauen. Die alte Magie hatte ihn eingeholt. Eine Reise hatte begonnen. Er wußte, daß er sich nicht verweigern konnte.

Es dauerte ein, zwei Monate, bis er es fertigbrachte, die Drehung zu vollziehen. Als es geschah, fühlte er es weniger als Wendung im Raum, als in der Zeit, in seiner eigenen Geschichte. Unumkehrbar. Jener Bland, der zurückkehrte in das reglose weiße Behältnis, das er rücklings auf dem Sofa ausgestreckt gesehen hatte, Tausende von Jahren unter ihm, war verwandelt für immer.

Es dauerte nicht lange, und er verbrachte den größten Teil seiner Zeit auf diesem Sofa und so gut wie keine mehr unten in der State Street. Seine Frau, die nie etwas in Frage stellte, glitt schattenhaft durch die Räume und behelligte ihn nur mit Haushaltsangelegenheiten, auf die sie manchmal, wenn Bland zufällig in seinem Körper war, eine Antwort erhielt, meistens jedoch keine. Fragwürdig aussehende Gestalten begannen, unangemeldet vor der Tür zu stehen, Ausländer, abscheulich anzuschauen, mit verfärbter, fettiger Haut, mit Grützbeuteln, Gerstenkörnern, Zysten, Asthma, fauligen Zähnen, bresthaften Gliedern, glotzend oder, was schlimmer war, mit einem weit entfernten, wundersamen Lächeln. Sie ließ sie in das Haus, ohne Ausnahme, und die Türen des Arbeitszimmers schlossen sich sacht hinter ihnen, vor ihrer Nase. Nie hörte Mrs. Bland mehr als ein leises Murmeln, in einer Sprache, die ihr fremd vorkam. Die Besucher unterwiesen ihren Gatten in den Techniken des Reisens.

Es hat, wenn auch selten, im geographischen Raum, Reisen nach Norden gegeben, über tiefblaue, feuerblaue Meere, gefroren, bedeckt von Schollen, zu den letzten Mauern des Eises. Was wir davon hörten, was wir darüber dachten, unterlag einem fatalen Irrtum: wir zollten die größere Aufmerksamkeit den Pearys oder Nansens, die wiederkamen - und, schlimmer noch, wir nannten, was -sie erreicht hatten, Erfolg, obwohl es ein Scheitern war. Indem sie wiederkamen, zurück zu Ruhm und Anerkennung, waren sie gescheitert. Wir hatten Tränen nur für Sir John Franklin und Salomon Andrée: weinten vor ihren Steinhügeln, ihren Gebeinen und übersahen in den armseligen, vereisten Überresten die Botschaft ihres Sieges. Als unsere Technologie so weit war, uns solche Reisen gefahrlos zu gestatten, hatten wir längst jede Fähigkeit verredet, Sieg oder Niederlage zu erkennen.

Was fand Andrée im polaren Schweigen: was hätten wir hören sollen?  - Thomas Pynchon, Die Enden der Parabel. Reinbek bei Hamburg 1981

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