Weltwirtschaftskrise  Während der Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre, in einer Stunde apokalyptischen Giücks, war Pater Fairing zu der Überzeugung gelangt, daß nach dem Untergang New Yorks die Ratten die Macht übernehmen würden.

Achtzehn Stunden täglich war der Pater von den Menschenschlangen vor den Bäckereien zu den Obdachlosenasylen gezogen, hatte getröstet und verwilderte Seelen wieder aufgerichtet. Er sah vor sich nichts als eine Stadt voller ausgemergelter Leichname, die die Bürgersteige und die Rasen in den Parks bedeckten, die bauchoben in den Brunnen schwammen, krummhalsig von den Straßenlaternen hingen. Diese Stadt - vielleicht auch ganz Amerika, aber so weit reichte sein Horizont nicht - würde den Ratten gehören, bevor noch das Jahr zu Ende ging. Und da es nun einmal so war, hielt es der Pater für das beste, den Ratten einen vernünftigen Start zu ermöglichen, das heißt, sie zum katholischen Glauben zu bekehren. Eines Nachts zu Beginn Roosevelts erster Amtsperiode kletterte er durch den nächstgelegenen Kanalschacht hinunter, nahm einen Baltimorer Katechismus, sein Brevier und (aus Gründen, die niemandem bekannt sind) eine Ausgabe von Knights »Modern Seamanship« mit. Das erste, was er tat (entsprechend seinem Tagebuch, das Monate nach seinem Tod gefunden wurde), war, alles Wasser, das jemals zwischen Lexington und East River und zwischen der 86th und der 79th Street fließen würde, auf ewig zu weihen. Das auch war das Gebiet, das Pater Fairings Gemeinde wurde. Dieser Gnadenakt sicherte ihm einen stets ausreichenden Vorrat an Weihwasser; darüber hinaus löste er das Problem individueller Taufen, wenn er erst einmal alle Ratten seiner Gemeinde zum rechten Glauben bekehrt hatte. Außerdem erwartete er, daß auch andere Ratten erfuhren, was unter der oberen East Side vor sich ging, und gleichermaßen kommen würden, um sich zu bekennen. So würde er der geistige Führer der Erben dieser Erde sein. Er erachtete es nur als ein geringes Opfer, daß sie ihm täglich drei der Ihren überließen, um ihn physisch am Leben zu halten, als Gegengabe für die geistige Nahrung, die er ihnen schenkte.

So baute er sich also am Rande eines Kanals eine kleine Hütte. Seine Soutane war ihm das Bett, sein Brevier das Kissen. Jeden Morgen entzündete er ein kleines Feuer aus dem Treibholz, das er gesammelt hatte. In der Nähe war eine Einbuchtung im Beton, die unter einem Regenwasserabfluß lag. Hier trank er und wusch sich. Nachdem er als Frühstück eine gebratene Ratte gegessen hatte (»Die Leber«, so schrieb er, »ist besonders zart«), machte er sich an seine erste Aufgabe: zu lernen, wie man sich mit den Ratten verständigen konnte. Offenbar gelang es ihm. Ein Eintrag vom 23. November 1934 lautet:

Ignatius erweist sich in der Tat als schwieriger Schüler. Den ganzen heutigen Tag stritt er mit mir über das Wesen des Ablasses. Bartholomäus und Theresa unterstützten ihn. Ich las ihnen aus meinem Katechismus vor: »Durch den Ablaß läßt uns die Kirche zeitliche Strafen für Sünden nach, indem sie uns aus ihrem Schatz der Gnade Anteil gewährt an den unendlichen Verdiensten unseres Herrn Jesus Christus und den überreichen Verdiensten der allerseligsten Jungfrau Maria und der Heiligen.« »Und was«, begehrte Ignatius zu wissen, »sind diese ›überreichen Verdienste‹?«

Ich las weiter: »Die sie zu ihren Lebzeiten erwarben, jedoch nicht benötigten, und an denen die Kirche ihren Mitbrüdern und -Schwestern der Gemeinschaft der Heiligen Anteil gewährt.« »Aha«, pfiff Ignatius, »dann kann ich aber keinen Unterschied zum marxistischen Kommunismus erkennen, von dem Sie sagen, er sei gottlos. Jedem nach seinen Bedürfnissen, von jedem nach seinen Fähigkeiten.« Ich versuchte ihm zu erklären, daß es verschiedene Spielarten des Kommunismus gebe: daß die Ur-gemeinde tatsächlich auf gegenseitiger Fürsorge und einer Teilung der Güter beruht habe. Bartholomäus stimmte in diesem Punkte mit mir überein, indem er bemerkte, daß vielleicht dieser Lehrsatz von dem geistigen Schatz auf den wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen der frühen Kirche beruhe. Theresa warf Bartholomäus prompt vor, selbst marxistischen Ansichten zu huldigen, und ein schrecklicher Kampf entbrannte, in dessen Verlauf Theresa ein Auge verlor. Um ihr weitere Schmerzen zu ersparen, schläferte ich sie ein und verwandte ihre Reste zu einem vorzügliehen Mahl, bald nach der Sext. Ich habe entdeckt, daß die Schwänze, wenn man sie lange genug kocht, recht wohlschmeckend sind. 

- (v)

 

 

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