eltgericht
Das »Weltgericht« konnte mittels eines Strahlers, der an eine Säule montiert
war, illuminiert werden. Pater Martin hob den Arm, und im Nu wurde die düster
verrätselte Szene lebendig. Sie standen vor einer virulenten Darstellung des
Jüngsten Gerichts, einem halbmondförmigen
Gemälde auf Holz von gut dreieinhalb Meter Durchmesser. Zuoberst thronte Christus
in seiner Herrlichkeit und breitete die Hände mit den Wundmalen über das Drama
zu seinen Füßen. Im Mittelpunkt stand offenkundig die Gestalt des Erzengels
Michael. Er hielt ein mächtiges Schwert in der Rechten und in der Linken eine
pendelnde Waage, mit der er die Seelen der Gerechten und Ungerechten wog. Links
von ihm lauerte der Teufel mit schuppigem Schwanz und lüsternem Grinsen auf
den Moment, da er seine Beute einfordern konnte. Die Tugendhaften erhoben die
bleichen Hände im Gebet, die Verdammten bildeten eine wuselnde Masse dickwanstiger
Hermaphroditen mit weit aufgerissenen Mündern. Neben ihnen schubste ein Trupp
mit Mistgabeln und Ketten bewaffneter Unterteufel seine Opfer in den Rachen
eines riesigen Fisches mit Zähnen wie Schwerter. Zur Linken war der Himmel als
eine Art Hotel mit Zinnen und Türmchen dargestellt, vor dem ein Engel als Portier
die nackten Seelen willkommen hieß. Sankt Peter im Pluviale und mit der Papstkrone
auf dem Haupt empfing die Prominenz unter den Seligen. Alle waren nackt, trugen
aber noch ihre Rangabzeichen: ein Kardinal seinen roten Hut, ein Bischof seine
Mitra, König und Königin ihre Kronen. Dalgliesh fand diese mittelalterliche
Himmelsvision wenig demokratisch. In den Mienen der Seligen las er ausnahmslos
fromme Langeweile; die Verdammten wirkten entschieden lebendiger und zeigten
eher Trotz als Reue, wenn sie mit den Füßen voran in den Fischrachen geworfen
wurden. Einer - er war größer als die anderen - widersetzte sich gar seinem
Schicksal und drehte dem heiligen Michael verächtlich eine lange
Nase.
- P. D. James, Tod an heiliger Stätte. München 2002
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