Weltenvergleich   «Ich möchte, daß man mich belehrt. Sagen Sie mir zunächst, wieviel Sinne die Menschen auf Ihrer Weltkugel haben.» — «Zweiundsiebzig». sagte der Saturn-Akademiker, «und wir klagen tagtäglich, daß wir so wenig haben. Wir bilden uns mehr Bedürfnisse ein, als wir haben, und fühlen uns mit unseren zweiundsiebzig Sinnen, unserem Saturnring und unseren fünf Monden allzu beschränkt, denn trotz unserer Wißbegier und der zahlreichen Leidenschaften, die ihren Ursprung in unseren zweiundsiebzig Sinnen haben, bleibt uns vollauf Zeit, um uns zu langweilen.» —

«Das glaube ich schon», meinte Mikromegas, «denn wir auf unserer Welt haben fast tausend Sinne, und dennoch erfüllt uns ein unbestimmtes Sehnsuchtsgefühl, eine ewige Unruhe, die uns daran mahnt, daß wir recht unbedeutend sind und daß es viel vollkommenere Wesen gibt. Ich bin etwas umhergereist und habe Sterbliche gesehen, die weit unter uns standen, und andere, die uns sehr überlegen waren, aber nirgends habe ich welche getroffen, die nicht mehr Wünsche als tatsächliche Bedürfnisse und mehr Bedurfnisse als Befriedigung hatten. Vielleicht komme ich eines Tages in ein Land, wo es an nichts fehlt, aber bis jetzt hat mir niemand über ein solches Land etwas berichtet.» Der Saturmer und der Siriusmann ergingen sich darauf in allerlei Vermutungen, doch nach vielen geistvollen und Ungewissen Betrachtungen kamen sie auf die Tatsachen zurück. «Wie lange lebt man bei euch?» wollte der Siriusbewohner wissen. — «Ach, sehr kurze Zeit» erwiderte der kleine Saturnmann. —

«Genau wie bei uns», rief der Siriusmann, «auch wir beklagen uns ständig über die Kürze des Daseins. Das muß ein allgemeines Naturgesetz sein.»—

«Leider leben wir nur fünfhundert große Sonnenwenden», sagte der Saturnier (nach unserer Zeitrechnung wären das beinahe fünf zehntausend Jahre). «Sie sehen wohl, daß das fast in dem Augenblick, da man geboren wird, sterben heißt. Unser Dasein ist ein Punkt, unsere Lebensdauer ein Augenblick, unsere Weltkugel ein Atom. Kaum hat man angefangen, etwas zu lernen, kommt schon der Tod, ehe man noch Erfahrungen gesammelt hat. Ich für mein Teil wage nie, Pläne zu schmieden, ich fühle mich wie ein Wassertropfen in einem unermeßlichen Ozean. Vor allem Ihnen gegenüber schäme ich mich der lächerlichen Figur, die ich in dieser Welt darstelle.»

Darauf antwortete Mikromegas: «Wenn Sie kein Philosoph wären, würde ich fürchten, Sie durch die Mitteilung zu betrüben, daß unser Leben siebenhundertmal länger währt als das eurige. Doch Sie wissen ja. wenn man seinen Körper in Llemente zerfallen lassen und die Natur in einer anderen Gestalt neu beleben muß, was nämlich sterben heißt, wenn dieser Augenblick der Metamorphose eingetreten ist, ist es einerlei, ob man eine Ewigkeit oder einen Tag lang gelebt hat. Ich bin in Ländern gewesen, in denen man tausendmal länger lebt als bei uns, und trotzdem beklagte man sich dort auch. Doch überall gibt es vernünftige Menschen, die ihr Schicksal auf sich nehmen und dem Schöpfer der Natur danken. Er hat über dieses Weltall eine Überfülle von Mannigfaltigkeiten in einer wunderbaren Einheitlichkeit ausgeschüttet. So sind zum Beispiel alle denkenden Wesen verschieden, und doch sind sie im Grunde einander gleich durch ihr Denken und Wünschen. Überall sehen wir Materie, aber auf jeder Weltkugel hat sie verschiedene Eigenschaften. Wie viele solcher verschiedener Eigenschaften stellen Sie an Ihrer Materie fest?» —

«Wenn Sie die Eigenschaften meinen, ohne die wir den Fortbestand unserer Weltkugel, so wie sie ist, für unmöglich halten», sagte der Saturnbewohner, «so zählen wir deren dreihundert, und zwar: Ausdehnung, Undurchdringlichkeit. Beweglichkeit, Anziehung, Teilbarkeit usw.» —

«Anscheinend genügt diese geringe Zahl für die Absichten, die der Schöpfer für Ihre kleine Wohnstätte hegte», sagte unser Reisender. «Ich bewundere seine Weisheit allerorten; überall sehe ich Verschiedenheit, aber zugleich Ausgeglichenheit. Eure Weltkugel ist klein, und klein sind auch die Bewohner. Ihr habt wenig Empfindungen, eure Materie hat wenig Eigenschaften - all das ist das Werk der Vorsehung. Welche Farbe hat, genau betrachtet, eure Sonne?» — «Stark gelblichweiß», sagte der Saturnier, «und wenn wir einen ihrer Strahlen zerlegen, finden wir, daß er sieben Farben enthält.» — «Unsere Sonne ist eher rötlich», sagte der Siriusmann, «und wir haben neununddreißig Grundfarben. Keine einzige von all den Sonnen, denen ich nahe gekommen bin, gleicht der anderen, ebensowenig wie bei euch ein Gesicht dem anderen ähnlich sieht.» Nach mehreren Fragen dieser Art erkundigte er sich, wie viele verschiedene Substanzen man auf dem Saturn zähle, und er erfuhr, daß man etwa dreißig annahm: Gott, den Raum, die Materie, die ausgedehnten empfindenden Wesen, die ausgedehnten Wesen, die empfinden und denken, die unausgedehnten denkenden Wesen, die einander durchdringenden Wesen, solche, die sich nicht durchdringen, und so fort. Der Siriusmann, in dessen Heimat man dreihundert Substanzen kannte und der auf seinen Reisen noch dreitausend andere entdeckt hatte, setzte den Saturnphilosophen in maßloses Erstaunen.  - Voltaire, Mikromegas. In: Voltaire, Mikromegas. Stuttgart  1984  (Bibliothek von Babel, Bd. 28)

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