eintraube    In der Stille schien das Zimmer größer zu werden, und ich legte mich aufs Bett. Ich aß die Weintrauben, die mit anderen Früchten auf dem Nachttisch in einer Schüssel lagen.

Zuerst dachte ich, daß es die Trauben seien, die mich so aufblähten. Der Rumpf schwoll an, während der Kopf und die Gliedmaßen zu tierischen Anhängseln zusammenschrumpften, einem Vogelschädel und Fischflossen. In der Mitte drückte mich eine Hitze auseinander, an den Enden fror ich. Man müßte diese Körperfortsätze einstülpen können! Eine Ader an der Hand zuckte, als schlüge sie um sich; die Nase begann auf einmal zu brennen, als hätte sie mit aller Gewalt in etwas hineingehackt, und da erst merkte ich, es war wieder die Todesangst, nicht die Angst vor dem eigenen Tod, sondern eine fast wahnsinnige Angst vor dem plötzlichen Tod andrer, die nun, da ich nach der langen Fahrt abgesetzt worden war, körperlich wurde. Die Nase kühlte plötzlich ab, die zuckende Ader an der Hand streckte sich plötzlich, und ich sah vor mir das Bild eines atemlos stillen, finsteren Tiefseetales ohne ein Lebewesen.  - Peter Handke, Der kurze Brief zum langen Abschied. Frankfurt am Main 1972

Weintraube  (2)   In der Ferne war noch das hohe C zu hören, als Fuxier auf uns zukam; mit der gespreizten rechten Hand drückte er einen irdenen Topf, aus dem eine Weinrebe hervorwuchs, gegen die Brust.

In der linken Hand hielt er einen zylindrischen, durchsichtigen Kolben mit dickem Korken, in dem ein Metallröhrchen steckte; am Boden war eine Ansammlung chemischer Salze zu erkennen, die zu anmutigen Kristallen ausgeformt waren.

Nachdem Fuxier seine beiden Lasten auf dem Boden abgestellt hatte, zog er eine kleine Blendlaterne aus der Tasche und legte sie flach auf die Erde, die den irdenen Topf von Rand zu Rand ausfüllte. Ein elektrischer. Strom, der den tragbaren Scheinwerfer zum Aufleuchten brachte, warf plötzlich einen blendend weißen, durch eine starke Linse gebündelten Lichtstrahl gegen den Himmel.

Dann hielt Fuxier den Kolben waagrecht und drehte an einem Schlüssel, der im Ende der Röhre steckte; aus ihrer Öffnung, die sorgsam auf einen bestimmten Teil der Rebe gerichtet wurde, strömte ein stark komprimiertes Gas. Aus einer kurzen Erklärung des Vorführers erfuhren wir, daß dieses Fluidum, sobald es mit der Atmosphäre in Berührung kam, kurzzeitig eine intensive Hitze erzeugte, die in Verbindung mit sehr merkwürdigen chemischen Eigenschaften eine Weinrebe vor unseren Augen heranreifen lassen sollte.

Kaum hatte er seinen Kommentar beendet, als die angekündigte Erscheinung in Gestalt eines winzigen Träubchens unter unseren Blicken sichtbar wurde. Fuxier, der Fähigkeiten besaß, wie sie die Legende manchem indischen Fakir zusprach, vollbrachte für uns das Wunder der plötzlichen Reifung.

Unter dem Einfluß der Gaszufuhr entwickelten sich die Trauben rasch, und bald hing eine Traube mit schweren, reifen, weißen Beeren ganz für sich seitlich an der Rebe.

Nachdem Fuxier die Röhre mit einer weiteren Schlüsseldrehung verschlossen hatte, stellte er den Kolben wieder auf dem Boden ab. Danach lenkte er unsere Aufmerksamkeit auf die Traube und zeigte uns winzige, in den durchscheinenden Beeren eingeschlossene Wesen.

Zuvor hatte Fuxier - wobei er in dem Schößling eine Modellier- und Färbarbeit vollbracht hatte, die noch sehr viel minuziöser war als das, was bei der Zubereitung seiner roten und blauen Pillen verlangt wurde - in jeder Beere die Entstehung eines reizvollen Bildes angelegt, das sich mit den Phasen dieser so leicht bewirkten Reifung vervollständigte.

Wenn man nahe heranging, konnte man durch die besonders feine und durchsichtige Traubenhaut hindurch die verschiedenen Gruppen unterscheiden, die das elektrische Licht von unten anstrahlte.

Die Manipulationen an dem Schößling hatten das Wachstum von Kernen unterbunden, und nichts störte die Reinheit der durchscheinenden, farbigen Liliput-Figürchen, deren Material das Fruchtfleisch lieferte.

»Eine Darstellung des alten Gallien«, sagte Fuxier und tippte mit dem Finger an eine erste Beere, in der man mehrere keltische Krieger sah, die sich zum Kampfe rüsteten.

Jeder von uns bewunderte die Feinheit der Umrisse und die Vielfalt der Farbtöne, die in dem leuchtenden Fluidum so deutlich hervortraten.

»Odo, im Traum des Grafen Valtguire von einem Dämon entzweigesägt«, fuhr Fuxier fort, wobei er auf eine zweite Beere wies.

Hinter der zarten Haut erkannte man diesmal einen Mann in voller Rüstung, der am Fuß eines Baumes schlief; eine Rauchwolke, die, um einen Traum anzudeuten, aus seiner Stirn zu steigen schien, hüllte mit ihrem zarten Dunst einen Dämon ein, der mit einer langen Säge bewaffnet war und mit ihren scharfen Zähnen den Körper eines sich vor Schmerzen krümmenden Verdammten anritzte.

Eine andere Beere, die kurz erklärt wurde, zeigte eine riesige Zuschauermenge, die sich im vollbesetzten römischen Zirkus am Gladiatorenkampf begeisterte.

»Napoleon in Spanien.«

Diese Worte Fuxiers galten einer vierten Beere; in Siegerpose ritt dort der Kaiser in seiner grünen Uniform durch eine Gruppe von Einheimischen hindurch, die ihn durch ihre dumpf bedrohliche Haltung zu verhöhnen schienen.

»Ein Evangelium nach Lukas«, fuhr Fuxier fort und berührte drei an einem einzigen Stiel angewachsene und nebeneinanderhängende Drillingsbeeren, die in drei aufeinanderfolgenden Szenen dieselben Personen zeigten.

An erster Stelle war Jesus zu sehen, wie er mit der Hand auf ein kleines Mädchen wies, das mit halbgeöffneten Lippen und stierem Blick einen hohen und langgezogenen Triller zu singen schien. Ein Junge, der daneben auf einem ärmlichen Lager unbeweglich in der Todesstarre ruhte, hielt eine lange Weidenrute in den Fingern; Vater und Mutter standen verstört neben dem Totenlager und weinten still vor sich hin. Ein verwachsenes und kränkliches Kind hielt sich in einer Ecke demütig abseits.

In der mittleren Beere hatte sich Jesus dem Lager zugewandt und betrachtete den jungen Toten, der, auf wunderbare Weise wieder lebendig gemacht, die leichte, biegsame Weidenrute wie ein geschickter Korbmacher flocht. Die verwunderte Familie drückte durch Gesten der Entzückung ihr freudiges Erstaunen aus.

Das letzte Bild, auf dem dieselbe Umgebung und dieselben Figuren zu sehen waren, verherrlichte Jesus, der das kranke, plötzlich schön gewordene und geheilte Mädchen berührte. Fuxier wandte sich von dieser kurzen Trilogie ab und hob die Unterseite der Trauben empor, wobei er auf eine großartige Beere zeigte, die er mit folgenden Worten kommentierte:

»Der Holzhacker Hans und seine sechs Söhne.«

Dort hatte ein ungewöhnlich kräftiger alter Mann eine ungeheure Holzladung geschultert - ganze Stämme und Holzbündel, die mit Lianen zusammengebunden waren. Hinter ihm beugten sich sechs junge Männer, jeder für sich, unter einer gleichartigen, jedoch unendlich leichteren Last. Der alte Mann schien mit halb gedrehtem Kopf die Nachzügler auszulachen, die weniger ausdauernd und weniger standfest waren als er.

In der vorletzten Beere war ein Jüngling im Louis-Quinze-Kostüm zu sehen, der im Vorbeigehen, ganz wie ein gewöhnlicher Spaziergänger, versonnen eine junge Frau in einem leuchtend roten Kleid betrachtete, die auf ihrer Türschwelle saß. »Die erste Liebesempfindung, die Jean-Jacques Rousseaus Emile verspürte«, erklärte Fuxier und ließ, indem er den Finger bewegte, die Strahlen des elektrischen Lichts mit dem Widerschein des leuchtend roten Kleides spielen.

Die zehnte und letzte Beere enthielt ein Duell von übermenschlichen Wesen, das uns Fuxier als Wiedergabe eines Raffaelgemäldes ausgab. Ein Engel, der einige Fuß über dem Boden schwebte, stieß die Spitze seines Schwertes in die Brust Satans, der wankte und dabei seine Waffe fallen ließ.   - Raymond Roussel, nach (hum)

 

Rebstock Obst

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Wein
Synonyme