Wegfahren  Er wollte garnicht mehr wegfahren, wenn er sich das genau vorstellte, nicht mehr weg jetzt, fort, aber doch auch herauskommen irgendwo anders sein, wenn das ginge, ohne fortzugehen. Das Empfinden war widersprüchlich. Es war etwas Schwankendes Unsicheres m seinen Überlegungen, oder es waren gar nicht einmal mehr genau Überlegungen, sondern nur noch dieses Unsichere Schwankende, wenn er dachte. Er wollte weg und wollte nicht mehr weg.

Und wenn er weg war, blieb er trotzdem zurück, oder was blieb zurück, alles, genaugenommen, wenigstens ziemlich viel. Und außerdem war es nun Winter, eine ungünstige Zeit, um. wegzugehen, irgendwo anders anzukommen und dann zuerst nicht zu wissen, was man machen konnte, außer da herumzugehen. Ich muß das alles neu sehen, noch einmal von vorn, sagte er sich, mich selbst neu irgendwie und irgendwie dann auch unabhängig sehen von ihr, durch sie nicht mehr belastet, warum aber fühlte er sich überhaupt durch sie belastet, warum nicht durch sich selbst belastet, seinen eigenen Schwanz, seine eigenen Eier, die Schlaffheit. Alle Pläne waren verschwunden, alle Vorhaben hatten sich ganz einfach aufgelöst. Es gab nichts mehr für ihn zu tun. Er konnte doch nun hierbleiben und am Tisch sitzen und nichts tun. Sie war beschäftigt. Und hinten in dem Zimmer war das Kind beschäftigt. Das ging doch gut. Etwas Neues war dazugekommen, und er konnte es nur noch nicht richtig begreifen. Was ist das? Keine bloße Addition mehr und keine bloße Subtraktion, ziehst du das von mir ab, zieh ich von dir das ab, gibst du mir das, geb ich dir das, ein Schlag und noch ein  Schlag, ein Wort, ein Satz, hinzugefügt, nichts mehr davon. Diese Situation hatte sich verändert. Als ob es nun zwischen ihnen sich zu teilen begonnen hätte, das Gefühl immer mehr aufgeteilt in immer kleinere Stücke. Er wollte nicht mehr wegfahren. Die Schlaffheit war da. Er wollte nicht mehr wegfahren. Hier gab es etwas Neues. Jetzt konnte er es sehen. Es war sein Nichtstun, sein Dasitzen am Tisch, ein andauerndes Sichaufteilen. Das war ihm vorher noch nie passiert. Er konnte es jetzt so sehen und begreifen. Sein Nichtstun als sein Nichtstun und sein Dasitzen am Tisch als sein Dasitzen am Tisch, schlimm, schlimm das Selbstmitleid. Wenn er krank würde, stellte er sich vor. Ich bin krank und brauche Schonung und muß andauernd Zuckerwasser zu mir nehmen. Du pflegst mich nicht gut. Ich beklage mich. Ich geb's auf. Ich fahr da nicht hin. Sätze, die er sich so leicht ausdenken konnte. Sie erforderten überhaupt keine Anstrengung. Diese Sätze waren bloß da. Sie waren unkompliziert, sie aber aussprechen, sagen, etwas anderes. Und schon verwirrte sich alles von neuem. Das hieß: daß in dem Moment sich alles verwirrte, wo er diese einfachen Sätze auf sie zu beziehen versuchte. Also mußte er doch weg, die Reise kam ihm gelegen, war eine gute Gelegenheit, einmal unauffällig zu verschwinden. Aber er wollte gar nicht mehr wegfahren. Manchmal, gab er zu, hatte er daran gedacht, wegzufahren, wegfahren zu können, eine schöne Vorstellung, ein beruhigender Gedanke. Wenn er sich dann fahren sah, war es niemals Flucht gewesen. Nun kam ihm das wie Flucht vor, oder noch nicht einmal Flucht, noch viel weniger war das, es war gar nichts. Es war seine Mickrigkeit. Andrerseits war die Reise schon seit langem geplant. Sie stand fest. Abschreiben konnte er nicht mehr, dazu war keine Zeit. Doch. Ein Telegramm auf geben. Nur daß er dann nicht mehr hier herauskam. Das war ein Widerspruch. Und wie, wenn er tatsächlich abfuhr, um aus diesem Widerspruch herauszukommen, das war doch auch schon was. Das sah er ein. Er mußte einmal hier herauskommen, dachte auch sie.   - (brink)

 

Fahren Fortgehen

 

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