egelagerer  Versuchsweise stelle ich mir vor, ich nehme das Angebot von Messerschmidt an. Auf einen Schlag werde ich mit einer Großgruppe von örtlichen Wichtignehmern umgeben sein, Tag für Tag. Prompt fliegt eine kleine Schwermut heran, die ich jetzt über die Brücke trage. Ein ebenso kleiner Schmerz kaspert in mir herum und sagt: Du mußt deinen Vorteil suchen und das Angebot annehmen. Mit dem Schmerz werde ich fertig, aber gegen die Schwermut muß ich etwas tun. Sie tänzelt vor mir her und will mit mir anbändeln. Ich gebe ihr den Namen Gertrud, damit ich sie wirkungsvoller verhöhnen kann. Gertrud Schwermut, hau ab. Prompt stellt sie sich vor: Gestatten, Gertrud Schwermut, darf ich Sie ein bißchen herunterziehen? Hau ab, wiederhole ich. Sie verschwindet nicht, im Gegenteil, sie faßt mich an, ich spüre ihre schwarze Wärme. Vermutlich denkt sie, sie hätte mich im Griff. Sie drängt mich zum Brückengeländer hin, ich sehe auf das dunkle Wasser hinunter. Wie wärs mit einer Trennung vom Leben, fragt sie, wegen erwiesener Geringfügigkeit? Ich kenne diese Fragen, sie machen mich stumm. Gertrud redet auf mich ein wie ein schwer erziehbares Kind. Und doch ist sie ein bißchen verärgert, weil ich wieder nicht alles tue, was sie von mir verlangt. Eine halbe Minute kämpfe ich mit Gertrud Schwermut auf der Brücke, dann merke ich, es sind ihre Kräfte, die nachlassen, nicht meine. Den Mann mit dem Schaufelgang habe ich während des Fights mit Gertrud leider aus den Augen verloren. Ein Lieferwagen einer Glaserei fährt langsam vorüber. Auf einem Gestell auf der Ladefläche sind zwei hohe Schaufensterscheiben eingespannt. Ich wünsche mir, statt meiner sollen die beiden Schaufensterscheiben zerbersten und dann auf die Straße fallen, sofort. Aber dann fühle ich, derartig heftige Wünsche sind nicht mehr nötig. Gertrud Schwermut ist überwältigt, jedenfalls diesmal. Wenn mich jetzt keine weiteren Wegelagerer aufhalten, werde ich in Kürze zu Hause eintreffen. Aber ich habe mich zu früh gefreut. Auf der anderen Seite der Brücke löst sich Frau Balkhausen aus einem Fußgängerpulk und kommt direkt auf mich zu. Sie reicht mir ihre kleine kalte Hand und schaut mich an.

Das Wochenende kommt, sagt sie, ich weiß absolut nicht, was ich machen soll.

Leider traue ich mich nicht, Frau Balkhausen zu sagen, daß ich soeben Gertrud Schwermut niedergerungen habe, daß ich mich deswegen ein bißchen schwächlich fühle und daß mir Wochenenden, eigene und fremde, schon lange egal sind.

Ich räuspere mich nur.

Ich denke nach, was ich machen könnte, sagt Frau Balkhausen, aber es kommt nichts dabei heraus. Dann schaue ich aus dem Fenster, aber ich sehe nichts oder nur das, was ich gestern und vorgestern schon gesehen habe. Können Sie mir einen Rat geben?

Ich? frage ich.

Sie leiten doch ein Institut für Gedächtniskunst oder Lebensfreude oder was. Sie bieten doch Tageskurse an, nicht, das haben Sie selber gesagt. Ich interessiere mich für einen solchen Kurs, ich bin fast sicher, daß Sie mir helfen können.

Ich starre Frau Balkhausen an, wahrscheinlich zu lang. Es überkommt mich Mitleid, auch Rührung, im Augenblick weiß ich mir nicht zu helfen, und doch fühle ich mich schon in der Pflicht. Immerhin hat Frau Balkhausen mir gegenüber die Diskretion des Leidens ein wenig gelüftet, dieser Entblößung kann ich kaum widerstehen.

Dann rufen Sie mich doch einmal an, sage ich, vielleicht am Freitag nachmittag?

Gerne! Danke!

Frau Balkhausen nickt mehrmals, ich sage ihr meine Telefonnummer, die sie sich auf einem Zündholzbriefchen notiert.

Vielen Dank, sagt sie, vielen Dank, und zieht weiter. - Wilhelm Genazino, Ein Regenschirm für diesen Tag. München 2003 (zuerst 2001)

Wegelagerer (2)  Ich zog eines Tages aus, um zu reisen; und da traf ich einen Mann, dessen Gewohnheit es war, Wegelagerei zu treiben. Als er mir begegnete, wollte er mich totschlagen; doch ich sprach zu ihm: Jch habe nichts bei mir, von dem du Gewinn haben könntest.' Darauf erwiderte er mir: »Mein Gewinn ist der, daß ich dir das Leben nehme.' Ich fragte ihn: ,Warum denn? Hat früher etwa Feindschaft zwischen uns bestanden?' ,Nein,' gab er zur Antwort, »dennoch muß ich dich unweigerlich töten.' Da flüchtete ich mich vor ihm bis zum Ufer des Flusses; er aber folgte mir, warf mich zu Boden und setzte sich mir auf die Brust. Ich flehte zum Schutzheiligen der Pilger und rief ihn an: 'Schütze mich vor diesem gewalttätigen Menschen!' Und siehe da, schon hatte er ein Messer herausgezogen, um mir den Hals zu durchschneiden, als plötzlich ein großes Krokodil aus dem Flusse hervorkam, ihn von meiner Brust herunterriß und in die Fluten zurücktauchte; er hielt noch das Messer in der Hand, als er im Rachen des Krokodils war, dann verschlangen ihn die Wasser. - (1001) 

Wegelagerer (3)

Wegelagerer (4)  Die Stadt meint, daß sie den Wildling Wolf durchaus nicht in ihrem Körper vertragen kann. Täglich arbeiten da Räuber in viel größerem Stil und fordern als Wegelagerer Zoll von allen. Das wird als große Klugheit gepriesen. Schon Thales, den man für einen hungernden Philosophen hielt, rächte sich als Wegelagerer. Als er eine reiche Olivenernte voraussah, pachtete er alle Olivenmühlen seiner Gegend, die mit einer sehr schlechten Ernte rechneten. Er war auf einen Schlag Millionär, wie wir heute sagen, und seither hat man den Spekulationsschlag nach Thales tausend und abertausend Male wiederholt, mit vollem Erfolg. Niemand entgeht mehr dem Gesetz der Stadt.

Gewiß hat jede Stadt ihr System, auch die Reichen wieder auszurauben. Bei den Erzbischöfen sind es die Juden, bei den Türken die Armenier, bei den Jesuiten oder den Orden in Indien sind es die Hohen Geistlichen, die aus den Reichen alles herauspressen in einer heiligen Inquisition.  - Ernst Fuhrmann, Leerlauf der Erziehung. Nach (fuhr)

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