Wedding   Einer der vielen Stammtische in der Bockbrauerei muckte gegen die Politisierung ihres Lieblingslokals auf und begründete einen antipolitischen Verein für Humor und Kaisertreue. Der Stammtisch bestand aus Handwerksmeistern, Rentiers, kleinen Fabrikanten und Magistratsbeamten. Doch waren auch einige Ingenieure aus den nahegelegenen Maschinenfabriken dabei, ein Mediziner und der Justizrat Tichauer.

Irgendein Witzbold dieses Stammtisches hatte herausgefunden oder auch nur behauptet, daß es fünf hundert Jahre zuvor eine blühende Pankgrafschaft auf dem Wedding gegeben habe. Die Bewahrung der ,Tradition' dieser alten Rittergilde machten die neuen Pankgrafen zu ihrem Lebenszweck.

Damals waren in der Berliner Architektur und im Kunstgewerbe gerade Mittelalter und Renaissance am Zuge und ganz Berlin erfüllt von der Stimmung des 'Trompeters von Säckingen'. Die Pankgrafen kleideten sich in Ritterrüstungen, Lederkoller, blankgewichste Reiterstiefel, Stulpenhandschuhe und setzten sich Flauschhüte mit wallenden Straußenfedern aufs Haupt. Mit Pferd und Wagen veranstalteten sie Umzüge durch den Berliner Norden bis in die Rehberge und fanden bei den Berlinern so viel Applaus, daß sie sich bald auch in andere Stadtteile und Vororte wagten. Ihr Ritual festigte sich, der Jux kam in strenge Regeln, und ein Ausflug der Pankgrafen war schließlich eine genau festgelegte kriegerische Handlung. Sie erklärten - auf sagenhafte Rechtstitel ihrer Chronik gestützt - irgendeiner märkischen Stadt den Krieg, nagelten einen übergroßen Fehdehandschuh an das Stadttor, erstürmten die Stadt mit viel Lärm, Knallfröschen und allerlei Feuerwerk, entfalteten auf dem Marktplatz ein großes Lagerleben und versammelten sich schließlich mit den unterworfenen Bürgern im Fackelglanz zu einer Rede des Großkomturs auf Kaiser und Reich, beschenkten die Waisenhäuser und Krüppelheime und fuhren am Montagmorgen vor Tau und Tag müde, verkatert und glücklich nach Berlin zurück. Man lachte über die Pankgrafen, amüsierte sich über sie, verspottete sie als wildgewordene Kleinbürger, und doch wurden sie bei alledem auch geliebt, denn sie sangen sehr schön und waren gutmütige und gutgewachsene Leute mit blonden Bärten und mit offenen Taschen. Überall brachten sie den kargen Charme der märkischen Ackerbauernstädte für ein paar Tage zu schöner Blüte, und schließlich wurde aus ihrem urkomischen Stammtisch die größte Berliner Spaßmachervereinigung. Man kannte sie bis in alle Grenzstädte Deutschlands. Für viele Deutsche waren die Pankgrafen die einzigen Berliner, die sie je zu Gesicht bekamen. Zwar tranken sie mindestens so viel Bier wie andere Deutsche auch, doch waren sie immer gut gelaunt, sahen lustig und statiös aus und ließen in jeder Stadt, die sie besuchten, ansehnliche Geldgeschenke für die Armen zurück. Ihr Witz glich etwa dem der rheinischen Karnevalsgesellschaften, es war viel Sand und Glimmer dabei, doch auch manch hübscher Edelstein.

Die mit Ironie vermengte Romantik der Pankgrafen ist ein echtes Berliner Gewächs. Sie waren nicht gerade Orchideenzüchter, eher Runkelrübenromantiker, und ihr Kaffee war stark mit Zichorie versetzt; doch hätten sie nie die Duldung Berlins gefunden, wenn nicht in ihrem Gehabe und ihren öffentlichen Umzügen ein Rest von echtem und berechtigtem Widerspruchsgeist gewesen wäre; ihr Protest richtete sich nicht nur gegen die Verlogenheit der Politik, er ging auch gegen die Vermassung, gegen die Humorlosigkeit des öffentlichen Lebens und gegen die wachsende Kahlheit der Mietskasernenstadt. Wer hat schon in Berlin den Mut, sich abseits vom Maskenball öffentlich im Narrenkleid zu zeigen? Im protestantischen Berlin hat es ja nie einen Straßenkarneval gegeben. Die Pankgrafen hatten die Courage, das ganze Jahr hindurch närrisch und vergnügt zu sein und außer der Reihe zu tanzen. Wie volkstümlich übrigens der Begriff 'Pankgraf' war, erwies noch eine Theaterkritik in den dreißiger Jahren, in der von dem unmäßig dick gewordenen Schauspieler Heinrich George, als er den Großen Kurfürsten im 'Prinz von Homburg' spielte, gesagt wurde, er hätte wie ein Pankgraf ausgesehen.

Die Pankgrafen haben das Kaiserreich, das Dritte Reich, die beiden Weltkriege und die Zerstörung Berlins überlebt. Ihr 'Großremter' im Kriegervereinshaus mit all seinen Bilder- und Möbelschätzen ist zerstört, doch gibt es sie immer noch; sie tun weiterhin Gutes und siegen immer noch mit stürmender Hand, zählebig wie englische Burggespenster.   - Walter Kiaulehn, Berlin. Schicksal einer Weltstadt. München 1981 (dtv 1648, zuerst 1958)

 

 

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