asserkrug »Willst du trinken?«

Kim nickte. Lurgan Sahib, fünfzehn Fuß entfernt, legte eine Hand auf den Krug. Im nächsten Augenblick stand der Krug, gefüllt bis auf einen halben Zoll vom Rande, dicht neben Kims Ellbogen - nur eine schmale Falte in dem Tischtuch zeigte, wo er sich vorbeigeschoben hatte.

»Wah!« machte Kim in äußerstem Erstaunen. »Das ist Magie.« Lurgan Sahibs Lächeln zeigte, daß das Kompliment ihm gefiel.

»Wirf ihn zurück.«

»Er wird zerbrechen.«

»Ich sage, wirf ihn zurück.«

Kim schleuderte ihn aufs Geratewohl. Er fiel zu kurz und zerbrach in fünfzig Stücke, das Wasser tropfte durch den rohen Bretterboden der Veranda.

»Ich sagte, er würde zerbrechen.«

»Ganz gleich. Schau ihn an. Schau auf das größte Stück.« Das lag, mit einem Wasserglitzern in seiner Höhlung, wie ein Stern auf dem Boden. Kim sah scharf darauf hin, Lurgan Sahib legte ihm sacht eine Hand aufs Genick, strich einige Male darüber hin und flüsterte: »Schau! Er soll wieder lebendig werden, Stück für Stück. Zuerst soll das große Stück sich mit den zwei ändern, links und rechts, vereinigen - links und rechts. Schau!«

Hätte es sein Leben gegolten, Kim hätte seinen Kopf nicht wenden können. Die leichte Berührung hielt ihn wie in einem Schraubstock, und sein Blut kribbelte ihm wohlig in den Adern. Wo drei Stücke des Kruges gelegen hatten, war jetzt ein großes, und darüber der schattenhafte Umriß des ganzen Gefäßes. Er konnte die Veranda hindurchscheinen sehen, aber es wurde dichter und dunkler mit jedem Pulsschlag. Und doch war der Krug - wie langsam die Gedanken kamen! - war der Krug vor seinen Augen zerschmettert worden. Eine neue Welle von prickelndem Feuer rann ihm den Nacken hinab, als Lurgan Sahib seine Hand wegzog.

»Schau, er bekommt wieder Form«, sagte Lurgan Sahib.

Bis hierher hatte Kim in Hindi gedacht, aber ein Zittern befiel ihn, und mit einer Anstrengung, wie ein Schwimmer vor Haifischen sich halb aus dem Wasser schleudert, schwang sein Geist sich aus einem Dunkel, das ihn verschlang, und suchte Zuflucht im - englischen Einmaleins!

»Schau! Er kommt wieder in Form«, wisperte Lurgan Sahib.

Der Krug war zerschmettert worden - ja, zerschmettert - nicht das Hinduwort, an das wollte er nicht denken -sondern zerschmettert - in fünfzig Stücke - und zwei mal drei war sechs, und drei mal drei war neun, und vier mal drei war zwölf. Verzweifelt klammerte er sich an die Zahlen. Der Schattenumriß des Kruges schwand wie ein Schleier, wenn man sich die Augen reibt. Da lagen die Scherben; da trocknete das verspritzte Wasser in der Sonne, und durch die Spalten des Verandabodens zeigte sich, streifig, die weiße Hausmauer darunter - und drei mal zwölf war sechsunddreißig!

»Schau! Kommt er wieder in Form?« fragte Lurgan.

»Aber er ist zerschmettert - zerschmettert«, keuchte er -Lurgan hatte während der letzten Minute leise gemurmelt. Kim rang seinen Kopf zur Seite. »Schau! Dekho! Er liegt da, wie er dagelegen hat.«

»Er liegt da, wie er dagelegen hat«, sagte Lurgan, Kim scharf beobachtend, während der Knabe sich den Nacken rieb. »Aber du bist der erste von vielen, der ihn je so gesehen hat.« Er trocknete sich die breite Stirn.

»War das wieder Magie?« fragte Kim argwöhnisch. Das Kribbeln in seinen Adern hatte aufgehört; er fühlte sich ungewöhnlich wach.

»Nein, das war nicht Magie. Ich wollte nur sehen, ob da - ein Fleck in einem Edelstein wäre. Zuweilen springen sehr feine Steine ganz in Stücke, wenn ein Mann sie in die Hand nimmt, der sich darauf versteht. Deshalb muß man vorsichtig sein, ehe man sie einsetzt. Sag mir, hast du die Form des Kruges gesehen?«

»Kurze Zeit nur, er fing an, wie eine Blume aus dem Boden zu wachsen.«

»Und was tatest du da? Ich meine, was dachtest du?«

»Oh. Ich wußte, er war zerbrochen, und das war es, glaube ich auch, was ich dachte - und er war zerbrochen.«

»Hm! Hat jemals schon irgend jemand dieselbe Art Magie mit dir getrieben?«

»Wenn das wäre«, sagte Kim, »denkt Ihr, ich würde es noch einmal mitmachen? Ich würde weglaufen.«    - Rudyard Kipling, Kim. Nach (ki)