Wasser, verflossenes  Es ist wenig bekannt, daß Dalí so unpraktisch ist wie kaum ein zweiter. Er gilt als toller Geschäftsmann, als harter Geldmensch, In Wirklichkeit hatte er, bevor er Gala traf, überhaupt keinen Sinn für Geld. Wenn er eine Fahrkarte brauchte, mußte sich Jeanne, meine Frau, darum kümmern. Als wir in Madrid einmal mit Lorca zusammen waren, sagte Federico zu ihm, er solle auf der gegenüberliegenden Straßenseite der Calle de Alcalá Karten fürs Apollo kaufen, wo eine Operette, eine Zarzuela, gegeben wurde.

Dali geht und bleibt eine gute halbe Stunde weg, dann kommt er ohne Karten zurück und erklärt: „Da komme ich nicht mit. Ich weiß nicht, wie man das macht."

In Paris mußte ihn eine Tante an der Hand nehmen, damit er über die Straße kam. Wenn er zahlte, vergaß er, sich das Wechselgeld herausgeben zu lassen, und dergleichen mehr. Unter dem Einfluß Galas, die ihn hypnotisierte, fiel er von einem Extrem ins andere und machte aus dem Geld - oder vielmehr dem Gold - den Gott, der die ganze zweite Hälfte seines Lebens beherrschen sollte. Aber ich bin sicher, daß ihm der wirkliche Sinn fürs praktische Leben auch heute noch abgeht.

Einmal ging ich zu ihm in sein Hotel am Montmartre und traf ihn mit nacktem Oberkörper und einem Verband auf dem Rücken an. Er hatte geglaubt, eine Wanze oder irgendein anderes Tier auf seinem Rücken zu spüren — in Wirklichkeit war es ein Pickel oder eine Warze -, und sich mit einer Rasierklinge den Rücken aufgeschnitten und geblutet wie ein Irrer. Der Hotelbesitzer hatte einen Arzt rufen lassen. Das alles wegen einer eingebildeten Wanze.

Er hat so viele Lügen erzählt - dabei kann er in Wirklichkeit gar nicht lügen. Zum Beispiel hat er, um das amerikanische Publikum zu schockieren, geschrieben, beim Anblick der Dinosaurierskelette in einem Naturgeschichtsmuseum habe ihn eine so heftige sexuelle Erregung ergriffen, daß er Gala unbedingt auf dem Flur habe sodomisieren müssen. Das stimmt ganz sicher nicht. Aber er ist so von sich selbst begeistert, daß ihn alles, was er sagt, mit der blinden Macht der Wahrheit schlägt.

Sein Sexualleben war praktisch nicht vorhanden. Er war ein Phantast mit leicht sadistischen Neigungen. Er war gänzlich asexuell ~ in seiner Jugend machte er sich unentwegt über seine Freunde lustig, die liebten und hinter Frauen her waren -, bis zu dem Tag, an dem Gala ihn entjungferte. Da schrieb er mir einen sechs Seiten langen Brief, in dem er mir auf seine Weise alle Wunder der körperlichen Liebe erklärte.

Gala ist die einzige Frau, mit der er richtig geschlafen hat. Hin und wieder hat er auch andere Frauen charmiert, amerikanische Millionärinnen vor allem, aber er begnügte sich dann etwa damit, sie in seiner Wohnung zu entkleiden, zwei Spiegeleier zu braten, sie ihnen auf die Schultern zu applizieren und sie dann ohne ein weiteres Wort wieder wegzuschicken.

Als er in den dreißiger Jahren zum erstenmal nach New York kam - ein Galerist hatte die Reise arrangiert -, wurde er Millionären vorgestellt, von denen er schon damals fasziniert war, und zu einem Maskenball eingeladen. Ganz Amerika stand noch unter dem Schock der Entführung des Lindbergh-Babys. Gala erschien auf dem Ball in Kinderkleidern und mit blutigen Striemen auf Gesicht, Hals und Schultern, und Dali stellte sie vor:

„Sie ist verkleidet als das ermordete Lindbergh-Baby."

Man fand das gar nicht komisch. Es ging um eine geradezu sakrosankte Gestalt, eine Geschichte, an der man sich nicht vergreifen durfte.

Nachdem ihm der Galerist den Kopf gewaschen hatte, trat Dalí schnell den Rückzug an und erklärte den Journalisten in kryptopsychoanalytischen Begriffen, Galas Kostüm sei vom X-Komplex inspiriert und sie sei ein freudscher Transvestit.

Wieder in Paris, wurde er vor die Gruppe zitiert. Sein Vergehen war schwer: Er hatte Öffentlich einen surrealistischen Akt abgeleugnet. André Breton hat mir selbst erzählt - ich war nicht dabei -, Salvador Dalí sei bei dieser Zusammenkunft auf die Knie gefallen und habe mit gefalteten Händen und tränennassen Augen geschworen, die Journalisten hätten nicht die Wahrheit geschrieben, er habe ausdrücklich erklärt, es handle sich um das ermordete Lindbergh-Baby.

Als er in den sechziger Jahren in New York wohnte, haben ihn einmal drei Mexikaner besucht, die einen Film vorbereiteten: Carlos Fuentes, der das Drehbuch geschrieben hatte, Juan Ibànez, der Regie führen sollte, und der Produktionschef Amerigo.

Sie hatten nur eine Bitte an Dalí: ihn filmen zu dürfen, wenn er in die Bar des San Regis käme und, wie immer mit einem kleinen Panther oder Leoparden an einer Goldkette, an seinen Stammplatz ginge.

Dali empfing sie in der Bar und schickte sie sofort zu Gala, „die sich um solche Dinge kümmert".

Gala empfängt sie, läßt sie Platz nehmen und fragt, was sie wünschten.

Sie tragen ihre Bitte vor, Gala hört zu und fragt dann plötzlich:

„Essen Sie gern Steak? Ein gutes, dickes, zartes Steak?"

Leicht aus der Fassung gebracht und in der Annahme, das sei eine Essenseinladung, bejahen die drei.

Darauf Gala:

„Sehen Sie, Dali ißt auch sehr gern Steak. Und wissen Sie, was. ein gutes Steak kostet?"

Sie wissen nicht, was sie sagen sollen.

Darauf verlangt sie einen unerhörten Preis, zehntausend Dollar, und die drei ziehen unverrichteter Dinge wieder ab.

Dalí hat einmal geschrieben, es gebe für ihn nichts Aufregenderes als das Schauspiel eines Eisenbahnwagens dritter Klasse voller toter, bei einem Unfall zerquetschter Arbeiter. Dabei hatte er, wie Lorca, eine fürchterliche Angst vor physischen Schmerzen und vor dem Sterben.

Den Tod entdeckte er an dem Tag, an dem ein Fürst, den er kannte, eine Art Experte für alle Fragen des mondänen Lebens, nämlich der Fürst Mdivani, den der Maler Jose-Maria Sert nach Katalonien eingeladen hatte, bei einem Autounfall ums Leben kam. An dem Tag waren Sert und die meisten Gäste an Bord einer Yacht auf dem Meer. Dali war in Palamós geblieben, um zu arbeiten. Ihm wurde die Nachricht vom Tod des Fürsten Mdivani gebracht. Er fuhr zur Unfallstelle und erklärte, er sei fassungslos.

Der Tod des Fürsten war für ihn ein richtiger Tod, Das war etwas anderes als ein Waggon voller Arbeiterleichen.

Seit fünfunddreißig Jahren haben wir uns nicht mehr gesehen. Als ich 1966 in Madrid mit Carrière am Drehbuch zu Belle de Jour arbeitete, bekam ich aus Cadaquès und - der Gipfel des Snobismus - auf französisch ein seltsames, gestelztes Telegramm, in dem er mich bat, doch unverzüglich zu ihm zu kommen, um mit ihm die Fortsetzung zum Andalusischen Hund zu schreiben. „Ich habe Ideen", erklärte er, „über die Du Freudentränen vergießen wirst", und er sei auch bereit, falls ich nicht nach Cadaquès fahren könne, sofort nach Madrid zu kommen.

Ich habe ihm mit einem spanischen Sprichwort geantwortet: „agua pasada no mueve molino" — „verflossenes Wasser bewegt keine Mühle".    -  Luis Buñuel, Mein letzter Seufzer. Berlin, Wien, Frankfurt am Main 1985

 

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