Weasser, steigendes    Das Wasser steigt, sagte er.

Warum steigt das Wasser? fragte ich.

Es kommt die Flut, sagte mein Bruder.

Das ist ein Fluß, sagte ich, und nicht das Meer.

Es ist das Meer, sagte er. Es ist der Ozean.

Es ist der Fluß, sagte ich, und wir sind allein. Es steht kein Mann vor uns.

Ja, sagte er. Wir sind allein. Wir sind von dem Ufer über die Böschung in das Flußbett gestiegen und stehen vor einem Stein mitten in dem Geröll.

Der obere Teil des Steins ist noch frei von Wasser; er trägt Rillen gleich den Windungen an einem Schneckenhaus; trockener Schlamm liegt darin; sonst ist nichts zu sehen.

Vielleicht eine Ameise, sagte ich.

Zwei, sagte mein Bruder, zwei Ameisen. Sie haben sich auf den Felsen gerettet und kriechen darauf umher. Vom Flugzeug aus sind sie zu sehen wie Ameisen. Sie winken zu uns herauf und schreien.

Sind es Kinder? fragte ich.

Ja, sagte mein Bruder. Sie liegen auf dem Felsen, in die Flechten verkrallt. Ein Kind steht auf und schaut über das Wasser: ob es noch steigt? sagt es zum andern: ich kann nichts sehen. Ich friere.

Ich friere auch, sagte ich.

Zieh meinen Pullover an, sagte mein Bruder.

Gehn wir lieber zurück, sagte ich.

Nein, sagte er.

Was ist? fragte ich. Warum schreist du? Das Wasser, sagte er.

Sprich lauter, sagte ich. In dem Lärm der Motoren kann ich gar nichts verstehen. Das Wasser hat sich vorwärtsgeschoben und die beiden auf eine kleine Flache gedrängt, sagte er. Das eine Kind schleift das andre hinter sich her. Das Wasser jedoch steht schon wieder; es ist an ihm selbst keine Bewegung zu merken. Ein Strohdach schaukelt darin auf und nieder; das Wetterkreuz am First dreht sich heftig, während das Dach schaukelt; der Wind dort unten muß stürmisch sein. Wo das Stroh von den Sparren gerissen ist, flattern die Kleider, die aus den Truhen und Schränken geschwemmt worden sind; das Wasser hat das Dach schief gedrückt und verzogen. Was tun die Kinder? fragte ich. Sie reden, sagte mein Bruder. Was reden sie? fragte ich. Sie reden über das Wasser, sagte er. Wie groß ist der Raum, den sie noch haben? fragte ich.

Du könntest darauf drei Schritte tun, sagte er. Sie sitzen mit gestreckten Beinen nebeneinander, die Hände flach neben sich auf den Felsen gelegt. Unter ihren Fersen steht das Wasser; es ist klar und ruhig. Sie rufen indessen laut; ich sehe es an den schwarzen, sich öffnenden Gesichtern, die sich zu uns herauf richten; aus der Nase des einen rinnt das Blut. Dieses Kind hat nur noch den rechten Schuh, der mit seiner Spitze gleichfalls zu uns

heraufweist; an den linken Zehen sehe ich die geschrumpften Socken. Die Füße des anderen Kindes sind nackt; die Knöchel reiben sich aneinander. Wo ist unser Seil? fragte ich. Wir haben es vergessen, sagte er. Und das Wasser? fragte ich. Das Wasser steht noch rund um die beiden, sagte er. Sie sitzen in der Mitte des trockenen Kreises und reden leise und hastig. Plötzlich heben sie die Köpfe und starren hinauf zu dem Wetterkreuz: erst jetzt, da es still steht, hören sie sein Knarren; wir hier oben wissen nichts davon. Gerade stößt das Wasser an einer Stelle ein wenig in den Kreis und benetzt den Absatz des einen Kindes. Wiewohl sie durch das Dunkel das Wasser nicht sehen, hören die beiden sogleich zu sprechen auf; sie drängen jedoch nicht zueinander: sie sitzen horchend, mit offenem Mund. In dem Augenblick Nein, sagte ich.

In dem Augenblick, sagte mein Bruder, treibt aus der Finsternis ein totes Schwein heran und zieht langsam an den Kindern vorüber. Ohne um die Bewegung ihrer Arme zu wissen, reiben sie mit den Handrücken über die Augen und starren auf das Schwein, Der Bauch des Schweins schimmert mit dem Warzen im Schaukeln hell aus dem Wasser; es stoßt an das Dach, schabt kurz an dem Balken und wälzt sich jetzt weiter. Ein Schwein, sagt das eine zum ändern voller Staunen. Ein Schwein, sagt das andre und leckt sich staunend das Blut von den Lippen. Und während sie sitzen und über das Schwein reden, entsteht am Horizont im Grund des Wassers ein Beben, das durch die Dörfer und Wälder wandert, ohne daß wir es sehen.

Gehn wir zurück, sagte ich, gehn wir zurück!

Und auf einmal, sagte er, auf einmal, auf einmal hebt sich das Wasser, hebt sich das Wasser, auf einmal hebt sich das Wasser und, das Wasser hebt sich, auf einmal hebt sich das Wasser, das Wasser hebt sich und    und        und und    und und

und undundundund

Nein! sagte ich.

Und     jetzt, sagte er.  - Peter Handke, Die Hornissen. Frankfurt am Main 1977 

Wasser Steigen

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VB
HochwasserFlut

 

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