aschzettel
Der erste Roman Rolf Dieter Brinkmanns durchstößt mit einer in Deutschland
bisher ungewohnten Radikalität die Stilisierungen und Ästhetsierungen des Romans,
er macht Literatur wieder zu dem, was man ihr seit langem nicht mehr zutraut:
zur unmittelbaren Mitteilung einer Erfahrung. Brinkmanns
Roman formuliert das Lebensgefühl einer neuen, noch nicht etablierten Generation.
Mit suggestiver Vehemenz zwingt er in das Erleben eines von Außenreizen überschwemmten
Milieus hinein, in die pausenlose Faszination von Beat, Film und Mode, in die
Unsicherheit einer von einem illusionären Anspruch aufgestörten männlichen Sexualität.
Die Krise spitzt sich zu im Zusammenleben einer Ehe. Ein Mann und eine Frau
versuchen, halb schon festgelegt, miteinander zu leben. Aber alle Versuche scheitern
an der Erwartung des Mannes,
der von außen manipulierten Utopie im anderen habhaft zu werden. Die sich mehr
und mehr verdinglichende Außenwelt schiebt sich zwischen die beiden, drängt
sie auseinander, reduziert sie auf sich selbst. Brinkmann verfolgt diesen
Prozeß mit rücksichtsloser Konsequenz. Er schwemmt die Aggressionen und Wünsche
hoch, die nie eingestandenen Reste des Bewußtseins, den unterdrückten Komplex
einer sich brutalisierenden Sexualität, die zur Kritik wird an einer scheinbar
geregelten und scheinbar offenen Lebensform, die ihre Widersprüche verdrängt.
Brinkmanns Buch schockiert. Es zeigt einen Stoff,
der neu ist, weil die Sublimierung ihn gewöhnlich wieder verdrängt. Bei Brinkmann
erscheint er in einer unperfektionierten Form, die am Anfang der Erfahrung
steht und die Bewegung von der Betroffenheit zum distanzierenden
Bewußtsein noch nicht abgeschlossen hat, sondern im Entstehen erfaßt. -
Waschzettel zu: Rolf Dieter Brinkmann, Keiner weiß mehr. Reinbek bei Hamburg
1970 (rororo 1254, zuerst 1968)
Waschzettel (2)
Eine Gammler- und Ganovenballade ohne folkloristische Klampfenbegleitung;
eine grandiose Herausforderung der bürgerlichen Gesellschaft. Was hier zum erstenmal
in deutscher Prosa literarisch dingfest gemacht worden ist, sind Mentalität
und Idiom einer durchaus repräsentativen Ausscherquote. Die durch einen Clan
von jugendlichen Herumtreibern und Umhergetriebenen, von frühreifen Nestflüchtern
und Querschlägern im Sozialgefüge vertretene Unterwelt bietet sich als provokante
Antithese dar zum herrschenden Saubermannsidyll und seinen vollkaskoversicherten
Wunschträumen. Der zur literarischen Methode stilisierte allwaltende Puerilismus
setzt auch den Leser in die Lage, die ausgemessene Welt zwischen Kepa und Tchibo
als verzaubert zu erleben und im Abnormen, Regelwidrigen und Verrückten etwas
zu erkennen, was auf den Namen der Unschuld hört. - Waschzettel zu
(
fich
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