artesaal   Merkwürdig, daß es ihn befremdete, wenn andere über Intimes sprachen (du bist ein altmodischer Mensch). Als Soldat, damals im Krieg, war's ihm gleichgültig gewesen, und er hatte sogar einmal erzählt, er habe bei zehn Grad unter Null in einem Wartesaal »eine zusammengepackt«. Mit »zusammengepackt« war damals der Geschlechtsverkehr bezeichnet worden, und Eugen dachte: dein Satz hat Eindruck g'macht... denn er erinnerte sich, wie einer zu ihm gesagt hatte, das sei ihm noch nie vorgekommen, daß einer im Wartesaal gevögelt habe.

Nun, so gehörte es dazu: Das Animalische war für die meisten am verlockendsten, weckte ihre Neugier, und warum? Weil es mit den Gefühlen zusammengeschmolzen war, die nicht berechnet werden konnten; weil's darin keine Logik gab. Und er erinnerte sich ans »Frischmädchen« (was wohl mit der war, wie's ihr ging?), die zu ihm gesagt hatte: »Als mir auch sein Geruch unsympathisch gewesen ist, habe ich gewußt: Jetzt ist's endgültig aus.« - Hermann Lenz, EinFremdling. Frankfurt am Main 1988 (st 1491, zuerst 1983)

Wartesaal (2) Wir streben weiter und folgen der Achse, die zwei aneinandergrenzende Hallenwege trennt. In fixen Abständen ruhen wir uns kurz aus, aber trotz unseres beständigen Fortschritts können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, daß wir uns überhaupt nicht bewegen und vielleicht in einem kleinen Warteraum gefangen sind, dessen anscheinend unendliche Abmessungen wir wie Ameisen auf einer Kugel umkreisen. Paradoxerweise bestätigen uns unsere Meßgeräte, daß wir in einen Bau von rapid ansteigender Masse eindringen.

Ist das ganze Universum nichts weiter als ein ungeheurer Weltraumterminal von unendlichen Ausmaßen? - J. G. Ballard, Bericht über eine unbekannte Raumstation. In: Phantastische Welten, Hg. Franz Rottensteiner. Frankfurt am Main 1984

Wartesaal (3) Der Wartesaal war frei von Möbeln oder anderen Gegenständen, soweit Watt sehen konnte. Es sei denn, daß etwas hinter ihm stünde. Das kam Ihm nicht sonderbar vor. Es kam ihm auch nicht normal vor. Denn er hatte mit Recht oder Unrecht den Eindruck, während er sich sigmaförmig in seiner Mitte hängenließ, daß dies ein Wartesaal war, bei dem sich sogar die feinsten Nuancierungen von sonderbar und normal als unzutreffend erwiesen.

Flüsternd erzählte der Mund, ein Frauenmund, stockend mit sich lockernden Lippen, wie Wartesäle leer ein zahlreicheres Publikum aufnehmen können als vollgestellt mil Sesseln und Sofas, und wie müßig es sei, sich hinzusetzer oder sich hinzulegen, wenn sich draußen der Regen niederschlägt, oder Hagel, oder Schnee, mit oder ohne Wind, ödet die Sonne mehr oder weniger lotrecht niederscheint. Der Name dieser Frau war Price, sie war eine äußerst magere Erscheinung, die wohl fünfunddreißig Jahre früher mit fliegenden Fahnen das Kap des Klimakteriums umsegelt hatte. Watt mißfiel es nicht, ihre Stimme wieder zu vernehmen und wieder dem Spiel ihrer blassen, mukösen Bögen zuzuschauen. Es mißfiel ihm nicht minder, als das Ganze verschwand.

Der Wartesaal war nun weniger leer, als er Watt zuerst vorgekommen war, um nach dem Vorhandensein von etwas zu urteilen, das sich wohl zwei Schritt vor Watt und ebensoweit rechts von ihm befand und nicht unbedeutend zu sein schien. Wate mochte seinen Kopf, nicht ohne seinen Hals zu verdrehen, noch so weit dahinstrecken, er vermochte doch nicht zu sagen, worum es sich handelte. Es gehörte weder zur Decke noch zur Wand, und auch nicht zum Boden, obgleich es damit in Berührung war, das war alles, was Watt hierüber sagen konnte, und selbst dieses wenige sagte er nicht vorbehaltlos. Aber dieses wenige war genug, ja, mehr als genug war für Watt die Möglichkeit, daß sich vielleicht noch irgend etwas außer ihm in diesem Kasten befand, das nicht ein integrierender Bestandteil von dessen Grenzen war. Ein außerordentlich übler Geruch, der Watt jedoch auch irgendwie vertraut war, warf die Frage auf, ob da nicht unter den Fußbodenbrettern das verwesende Aas irgendeines Tiers wie eines Hundes, einer Katze, einer Ratte oder einer Maus läge. Denn der Boden war, obgleich er Watt wie aus Stein zu sein schien, in Wirklichkeit gedielt, überall. Dieser Geruch war so scharf, daß Watt beinahe genötigt gewesen wäre, seine Taschen abzusetzen und sein Taschentuch hervorzuziehen, oder, genauer, seine Rolle Toilettenpapier aus der Hosentasche zu ziehen. Denn um sich ein Waschen zu ersparen und wahrscheinlich auch um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, benützte Watt zum Schneuzen, wenn sich nicht gerade eine Gelegenheit zu einer unmittelbaren digitalen Absonderung bot, lediglich Toilettenpapier, wobei jedes einzelne Blatt rotzdurchnäßt zu einer Kugel zusammgeknüllt und weggeworfen wurde, und er mit den Händen durch das Haar fuhr, was sehr zu dessen Verschönerung beitrug, oder eine Hand an der anderen rieb, bis beide glänzten.

Dieser Geruch war jedoch nicht das, was Watt zuerst vermutet hatte, sondern ein ganz anderer, da er immer schwächer wurde, was er nicht getan hätte, wenn er das gewesen wäre, was Watt zuerst vermutet hatte, und er verschwand schließlich restlos.

Aber nach einer Weile kam genau der gleiche Geruch wieder, breitete sich aus und schwand dahin, wie vorher. Auf diese Weise kam und verschwand er, ein paar Stunden lang.

Es war etwas an diesem Geruch, das Watt eigentlich gar nicht so übel fand. Und doch war er nicht traurig, wenn er verschwand.

Im Wartesaal wurde die Dunkelheit allmählich dichter und dichter. Bald gab es hier nicht mehr einen dunklen Teil und einen weniger dunklen Teil, nein, sondern alles war gleichmäßig dunkel und blieb so, eine Weile. Diese bemerkenswerte Veränderung vollzog sich m unmerklichen Sprüngen. Nachdem der Wartesaal eine Weile ganz dunkel gewesen war, wurde die Dunkelheit im Wartesaal langsam lichter und lichter, allenthalben, in winzigen Abstufungen, und lichtete sich immer mehr, im gleichen Rhythmus, bis jeder Teil des Wartesaals gerade zu sehen war, bei weitgeöffneten Augen. Watt erkannte nun, daß der Gegenstand, der ihm die ganze Zeit Gesellschaft geleistet hatte, ein Stuhl war. - (wat)

Bahnhof Warten Saal

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