arnung
Gebe der Himmel, daß der Leser, erkühnt und
augenblicklich von grausamer Lust gepackt gleich dem, was er liest, seinen
steilen und wilden Weg durch die trostlosen Sümpfe dieser finsteren und
gifterfüllten Seiten finde, ohne die Richtung zu verlieren; denn wofern
er nicht mit unerbittlicher Logik und einer geistigen Spannung, die wenigstens
seinen Argwohn aufwiegt, an diese Lektüre geht,
werden die tödlichen Emanationen dieses Buches seine Seele
durchtränken wie das Wasser den Zucker. Es ist
nicht gut, daß jedermann die folgenden Seiten lese; nur einzelne werden
diese bittere Frucht gefahrlos genießen. Darum, bevor du, scheue Seele,
tiefer eindringst in solch unerforschtes Ödland, lenke deine Schritte rückwärts
und nicht vorwärts. Höre wohl, was ich dir sage: lenke deine Schritte rückwärts
und nicht vorwärts, den Augen eines Sohnes gleich, der sich ehrfurchtsvoll
von der erhabenen Betrachtung des mütterlichen Antlitzes abwendet; oder
vielmehr wie ein unabsehbarer Winkel fröstelnder und sehr nachdenklicher
Kraniche, der zur Winterszeit mit vollen Segeln gewaltigen Fluges durch
das Schweigen zieht, einem bestimmten Punkt am Horizont entgegen, wo sich
plötzlich ein seltsamer und heftiger Wind erhebt,
Vorbote des Sturms. Der älteste Kranich, der allein die Vorhut bildet,
wiegt, als er dies bemerkt, das Haupt wie eine vernünftige Person, infolgedessen
auch seinen Schnabel, den er klappern läßt, und er ist nicht froh (ich
wäre es an seiner Stelle auch nicht), während sein alter, von Federn entblößter
Hals, Zeitgenosse dreier Kranichgenerationen sich in gereizten Kräuselungen
bewegt, ahnendes Zeichen des schneller und schneller nahenden Gewitters.
Kaltblütig spähen die erfahrenen Augen des ersten Kranichs (denn er ist
es, der das Vorrecht genießt den anderen, ihm an Intelligenz unterlegenen
Kranichen die Schwanzfedern zu zeigen) mehrmals nach allen Seiten, und
mit dem Warnruf des melancholischen Vorpostens, Signal zum Gegenangriff
auf den gemeinsamen Feind, schwenkt er, umsichtig und elastisch, die Spitze
der geometrischen Figur (vielleicht ist es ein Dreieck, das diese seltsamen
Zugvögel im Räume bilden, nur sieht man den dritten Schenkel nicht) bald
nach Backbord, bald nach Steuerbord, wie ein gewandter Kapitän;
und mit Flügeln manövrierend, die nicht größer scheinen als die eines Sperlings,
nimmt er so, denn er ist nicht dumm, einen anderen
Weg, der sicherer ist, einen philosophischen Weg.
- (
mal
)
Warnung (2) Gewiß gefällt die Warnung eines alten Schulmanns, die er seinen Primanern gab: Procul este a profanis, nam habent oculos vocativos, si fueris dativus, illae sunt genitivae, paulo post accusativae, vos nominativi et pax vestra ablativa1
1
Bleibet von den Huren, ihre Augen sind Vokative (herausfordernd), und
bist du Dativus (gebend) gewesen, werden sie zum Genitivus (gebärend),
und bald zum Akkusativ (Anklägerinnen), ihr werdet Nominative (Benannte)
und eure Ruhe ist im Ablativ (fortgenommen). -
(
kjw
)
Warnung (3) Meine Damen und Herren!
Jede Gegend ist zerklüftet, jedes Individuum
hat etwas für sich. Jedes Thema, jede Tür, jede
Art von Gewerbe, alle möglichen Waren von jeglicher Beschaffenheit, alle
Sekten, jede Clique, jedes geistliche Amt, jeder Zirkel, alle Länder und
Nationen sind gefährlich. Jede Klausel, jeder Artikel, jeder Monat, jedes
einzige Mal ist gefährlich. Jede Kreatur muß
sich ganz allein durch das Leben schlagen.- (
liu
)
Warnung (4) Was heißt zu viel in
dem Genuß der physischen Liebe? Ich antworte, wenn man sie zu frühzeitig
(ehe man noch selbst völlig ausgebildet ist, beim weiblichen vor dem 18.,
beim männlichen vor dem 20. Jahre) genießt, wenn man diesen Genuß zu oft
und zu stark wiederholt (welches man daraus erkennen kann, wenn nachher
Müdigkeit, Verdrossenheit, schlechter Appetit
erfolgt), wenn man durch öftern Wechsel der Gegenstände, oder gar durch
künstliche Reize von Gewürzen, hitzigen Getränken u.dgl. immer neue Reizungen
erregt und die Kräfte überspannt, wenn man nach starken Ermüdungen des
Körpers oder in der Verdauung diese Kraftanstrengung macht, und um alles
mit einem Worte zu umfassen, wenn man die physische Liebe außer der Ehe
genießt; denn nur durch eheliche Verbindung (die den Reiz des Wechsels
ausschließt und den physischen Trieb höhern moralischen Zwecken unterwirft)
kann dieser Trieb auch physisch geheiligt, d.h. unschädlich und heilsam
gemacht werden. - (
huf
)
Warnung (5)
DEM UNZUFRIEDENEN |
Hat Dich mein zynisch' Zahn nun ganz durchbohret, |
Mit Deinem Unrecht kamst Du mir zu nahe, |
Hol' nackend nicht den Honig von den Bienen. |
Verachte, Fliege, nicht die Spinnenweben, |
Und glaub' ans Evangelium, |
- Giordano Bruno, Das Aschermittwochsmahl. Frankfurt
am Main 1981 (it 548, zuerst ca. 1580)
Warnung (6) Das Personal eines
erstklassigen Restaurants in Zürich erhält eines Tages die Warnung, ein
besonders schwieriger Gast, «ein alter Nazi», sei
im Anmarsch. Dass der rabiate Greis seine Wünsche
jeweils quer durch den Saal brüllt (gelernt ist gelernt), kann die kampferprobte
Servicebrigade nicht schrecken. Dass er sich «nur von Schweizern
oder Deutschen» bedienen lassen will, lässt
sich einrichten. Peinlich wird es hingegen, als er eine junge Serviertochter
beim Tellereinsetzen (so der Fachausdruck für das Auftischen) auf den Hals
küssen will. Peinlich nicht zuletzt für seine Frau, die neben ihm sitzt
und die er «Mausezahn» nennt. Der eigens für ihn zubereitete Hauptgang:
Taschenkrebs an einer Trüffelsauce, mundet ihm nicht. Er beordert den Küchenchef
an den Tisch – und schüttet ihm die Sauce ins Gesicht. Das Happy End: Der
Mann hat Hausverbot erhalten. - Bruno Ziauddin, Weltwoche,
Ausgabe
18/05
Das jüngste Gericht
Warnung (7) »Der todsünden sind viele«,
schrie dieser alte Ebenezra in feierlichem, saurem vaterton, »und ich habe mich
wohl gehütet, in meiner jugend davon eine zu begehen, lang ist es her, daß ich
sie verlassen und mein alter in ehren trage; hier: mein weißes haar, hier: mein
silbergraues haar, hier: mein langer (falscher) bart, den ich nicht habe scheren
lassen aus eitelkeit und weltlicher sucht - ein mann ist ein mann auch im abgeschabten
raglan, und der möglichkeiten sind viele, aus der rolle des ordentlichen hausvaters
in die eines wüstlings zu stürzen, ein gefärbter bartzipfel ist des bösen, ein
buntes tuch um den hals ein verfall, ein polierter schuh Babel vor dem abgrund,
sintemalen es geschrieben stehet: Wer sich läßt nachblicken von denen jungen
dirnen und losen witwen, deme ist Scheol, ort und lage aller zebracharaktere
und götzenstreichler!« - (
dru
)
Warnung (8) Sey
vorsichtig gegen jede Leisesprecher und Scharfschreiber; gegen
Wenigsprecher und Vielschreiber; gegen jeden Wenigsprecher und
Viellächler, dessen Viellächeln nicht rein von Hohn und Verachtung ist.
- Kurze Stirnen, stumpfe Nasen, sehr kleine Lippen, oder dann
vorstehende Unterlippen - und große Augen, die dich nie direkt
anschauen dürfen - und besonders breite, rohe Kinnladen; ein
aufstehendes, unten fest-fettes Kinn, zeichnen sie aus. -
Lavater
Warnung (9) Meine Damen und Herren! Jede
Gegend ist zerklüftet, jedes Individuum hat etwas für sich. Jedes Thema, jede
Tür, jede Art von Gewerbe, alle möglichen Waren von jeglicher
Beschaffenheit, alle Sekten, jede Clique, jedes geistliche Amt, jeder Zirkel,
alle Länder und Nationen sind gefährlich. Jede Klausel,
jeder Artikel, jeder Monat, jedes einzige Mal ist gefährlich. Jede Kreatur
muß sich ganz allein durch das Leben schlagen.- (
liu
)
Warnung (10) Hüten wir uns, zu denken,
daß die Welt ein lebendiges Wesen sei. Wohin sollte sie sich ausdehnen? Wovon
sollte sie sich nähren? Wie könnte sie wachsen und sich vermehren? Wir wissen
ja ungefähr, was das Organische ist: und wir sollten das unsäglich Abgeleitete,
Späte, Seltene, Zufällige, das wir lur auf der Kruste der Erde wahrnehmen, zum
Wesentlichen, Allgemeinen, Ewigen umdeuten, wie es jene tun, iie das All einen
Organismus nennen? Davor ekelt mir. Hüten wir uns schon davor, zu glauben, daß
das All eine Maschine sei;
es ist gewiß nicht auf ein Ziel konstruiert, wir tun ihm mit dem Wort "Maschine"
eine viel zu hohe Ehre an. Hüten wir uns, etwas so Formvolles, wie die zyklischen
Bewegungen unserer Nachbarsterne überhaupt und überall
vorauszusetzen; schon ein Blick in die Milchstraße
läßt Zweifel auftauchen, ob es dort nicht viel rohere und widersprechendere
Bewegungen gibt, ebenfalls Sterne mit ewigen geradlinigen Fallbahnen und dergleichen.
Die astrale Ordnung, in der wir leben, ist eine Ausnahme; diese
Ordnungund die ziemliche
Dauer, welche durch sie bedingt ist, hat wieder die Ausnahme
der Ausnahmen ermöglicht: die Bildung des Organischen.
Der Gesamtcharakter der Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos,
nicht im Sinne der fehlenden Notwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung,
Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten
heißen. Von unserer Vernunft aus geurteilt, sinddieverunglückten
Würfe weitaus die Regel,die Ausnahmen sind nicht das geheime Ziel, und
das ganze Spielwerk wiederholt ewig seine Weise, die nie eine Melodie heißen
darf, — und zuletzt ist selbst das Wort "verunglückter Wurf" schon
eine Vermenschlichung, die einen Tadel in sich
schließt. Aber wie dürften wir dasAll tadeln oder loben! Hüten wir uns,
ihm Herzlosigkeit und Unvernunft oder deren Gegensätze nachzusagen: es ist weder
vollkommen, noch schön, noch edel, und will nichts von alledem werden, es strebt
durchaus nicht danach, den Menschen nachzuahmen! Es wird durchaus durch keines
unserer ästhetischen und moralischen Urteile getroffen! Es hatauch keinen
Selbsterhaltungstrieb und überhaupt keine Triebe; es kennt auch keine
Gesetze. Hüten wir uns, zu sagen, daß es Gesetze in der
Natur gebe. Es gibt nur Notwendigkeiten: da ist keiner, der befiehlt, keiner,
der gehorcht, keiner, der übertritt, Wenn ihr wißt, daß es keine Zwecke gibt,
so wißt ihr auch, daß es keinen Zufall gibt: denn nur
neben einer Welt von Zwecken hat das Wort "Zufall" eben Sinn. Hüten
wir uns, zu sagen, daß Tod dem Leben entgegengesetzt sei. Das Lebende ist nur
eine Art des Toten, und eine sehr seltene Art. — Hüten wir
uns, zu denken, die Welt schaffe ewig Neues.
Es gibt keine ewig dauerhaften Substanzen; die Materie ist ein ebensolcher
Irrtum wie der Gott der Eleaten.- Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (zuerst
1882)
Warnung (11)
Warnung (12)
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