anderer Als Wanderer und Fremdling darf man nicht schroff sein und hoch hinaus wollen. Man hat keinen großen Bekanntenkreis, darum darf man sich nicht brüsten. Man muß vorsichtig und zurückhaltend sein, so schützt man sich vor Übel. Wenn man gegen die andern zuvorkommend ist, so erringt man Erfolge. Der Wanderer hat keine feste Stätte, die Straße ist seine Heimat. Darum muß er dafür sorgen, daß er innerlich recht und fest ist, daß er nur an guten Orten verweilt und nur mit guten Menschen verkehrt. Dann hat er Heil und kann unangefochten seine Straße ziehen. - (ig)

Wanderer (2) Die Kameltreiber trugen Abhäutemesser statt Rosenkränze um den Hals. Sie hatten als Hilfstruppen bei der Legion gedient. Bei Sonnenuntergang brachten sie mich zu einem Haus am Stadtrand, um den bhagi zu hören.

Der bhagi war ein heiliger Wanderer, der von einer Oase zur nächsten ging, begleitet von seinem zahnlosen alten Vater. Seine Augen waren umwölkte blaue Mandeln. Er war von Geburt an blind, und der Vater mußte ihn überall hinfuhren.

Er kannte den ganzen Koran auswendig, und wir fanden ihn, wie er zusammengekauert an die Lehmziegelwand lehnte und selig lächelnd die Suren psalmodierte, während sein Vater die Seiten des Buchs umblätterte. Die Wörter kamen immer schneller, bis sie zum Schluß in einem ununterbrochenen, hämmernden Rhythmus hervorgestoßen wurden, einem Schlagzeugsolo vergleichbar. Der Vater schnippte die Seiten um, und die Menschen in der Menge begannen sich mit »verlorenen« Blicken zu wiegen, als wären sie kurz davor, in Trance zu verfallen.

Plötzlich hielt der bhagi inne. Einen Augenblick herrschte absolute Stille. Den folgenden Vers begann er sehr, sehr langsam zu sprechen, wobei er seine Zunge um die Kehllaute wickelte und die Wörter hinausschleuderte, eins nach dem andern, den Zuhörern entgegen, die sie als Botschaften von »dort draußen« entgegennahmen.

Der Vater lehnte seinen Kopf an die Schulter seines Sohnes und stieß einen tiefen Seufzer aus. - (chatw)

Wanderer (3) Wandere heute, wandere morgen, so kommst Du gut voran. Er geht und geht auf gut Glück und ohne Richtung, aber immer mutig und entschlossen, ohne zu wanken. Schließlich gelangt er an eine alte Eichenallee mitten in einem Walde und fragte einen Greis, der dort am Eingang stand:

«Wohin führt diese Allee, Großvater?»

«Es sind beinahe hundert Jahre, seit ich hier wohne», antwortete der Greis, «und noch nie bin ich bis ans andere Ende der Allee gegangen; auch kann ich Dir nicht sagen, wohin sie führt; alles, was ich von ihr weiß, ist, daß sie sehr lang ist.»

«Wie lang sie auch sein mag», erwiderte Ewen, «so muß sie doch ein Ende haben und irgendwohin führen, und das muß ich erkunden.» - (bret)

Wanderer (4)  Ich marschierte also wieder nach links um, ohne auszuruhen, und kam nachts um 1 Uhrzu Hause an; in allem war ich zwölf Stunden unterwegs gewesen und durchaus nicht ermüdet. Ich stieg in ein Bad, das mir bereitet war, und setzte eine Flasche Rheinwein an und ließ es so lange heruntergluckern, bis ich den Boden sah. Die Zofe schrie und dachte, es könne mir schaden im heißen Bad, allein ich ließ mir nicht wehren, sie mußte mich ins Bett tragen, ich schlief sanft, bis ich am Morgen durch ein wohlbekanntes Krähen und Nachahmen eines ganzen Hühnerhofes vor meiner Tür geweckt wurde. - Bettine von Arnim an Goethe, nach: Der Rabe. Magazin für jede Art von Literatur 25. Zürich 1989

Wanderer (5)  

Süd und Nord ist in mir. Mich erhitze der ägyptische Sommer.
  Und der Winter des Pols tötet das Leben in mir.
Und ich hört aus der Tiefe herauf das Seufzen der Erde,
  Und ihr Angesicht barg unter die Wolke sie gern,
Nicht wie der Liebesgott mit lieblich schmerzlichem Pfeile,
  Hart, wie ein Zepterschlag, traf sie der brennende Strahl.
Fernhin schlich das hagre Gebirg, wie ein wandelnder Nachtgeist,
  Hohl und einsam und kahl blickt' aus der Höhe sein Haupt.
Ach! hier sprang, wie sprudelnder Quell, der unendliche Wald nicht
  In die tönende Luft üppig und herrlich empor.
Hier frohlockten die Jünglinge nicht, die stürzenden Bäche,
  Ins jungfräuliche Tal hoffend und liebend hinab,
Freundlich blickte kein Dach aus der Blüte geselliger Bäume,
  Wie aus silbernem zartem Gcwölke der Mond.
Keiner Herde verging arn plätschernden Brunnen der Mittag,
  Und dem Hirten entlief nirgend das lustige Roß.
Unter dem Strauche saß der scheue Vogel gesanglos.
  Ängstig und eilig flohn wandernde Störche vorbei.
Nicht um Wasser rief ich dich an, Natur! in der Wüste,
  Wasser fand ich im Bauch meiner Kamele zur Not.
Um der Haine Gesang, um Gestalten und Fatben des Lebens
  Bat ich, vom freundlichen Vaterlandsboden verwöhnt;
Schönheit wollt ich, du gabst mir wilde Scherze zur Antwort,
Schönheit - aber du gabst kaltes Entsetzen dafür.
  Affen und Tiger sandtest du mir, da schied ich und schiffte,
Bis in des äußersten Nords frierendes Dunkel hinauf.
  Tot in der Hülse von Schnee schlief hier das gefesselte Leben,
Und der eiserne Schlaf harrte des Tages umsonst.
  Ach! hier schlang um die Erde den wärmenden Arm der Olymp nicht,
Wie Pygmalions Arm um die Geliebte sich schlang.
  Hier bewegt' er ihr nicht mit dem Sonnenblicke den Busen,
Und in Regen und Tau sprach er nicht freundlich zu ihr.
  Mutter Erde! rief ich, du bist zur Witwe geworden,
Dürftig und kinderlos lebst du in langsamer Zeit.
  Sonstwo neidetest du das herrliche Licht des Olymps nicht,
Dem der gewaltige Geist nimmer im Winter entschläft.
  Nichts zu erzeugen und nichts zu pflegen in sorgender Liebe,
Alternd im Kinde sich nicht wiederzusehn, ist der Tod.
  Aber vielleicht erwärmst du dereinst am Strahle des Himmels,
Und es erweckt vom Schlaf zärtlich sein Othem dich auf.
  Und wie ein Samenkorn durchbrichst du die eherne Hülse,
Und es blicken aus dir schüchterne Knospen hervor.
  Und die gesparte Kraft flammt auf in üppigem Frühling,
Rosen glühen und Wein sprudelt im kärglichen Nord.
  Aber es schwieg der Nord zur Freude, so ich verheißen,
Und vergebens gesagt war das belebende Wort.
  Nach Ausonien kehr ich zurück, in die freundliche Heimat,
Und es wehen, wie einst, mildere Lüfte mich an.
  Und das glühende Herz besänftigen mir die vertrauten
Friedlichen Bäume, die einst mich in den Armen gewiegt,
  Und das heilige Grün, der Zeuge des ewigen, schönen
Lebens der Welt, es erfrischt, wandelt zum Jüngling mich um.
  Alt bin ich geworden indes, mich verbrannte der Sommer Ägyptens
Und der Winter des Pols hauchte versteinernd mich an. ...

- Friedrich Hölderlin (Entwurf)

Wanderung
Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe
Verwandte Begriffe
Synonyme
Vagabund