Waldfrau    Als sie danach durch die vordersten Büsche und Sträucher vordrang und bald schon unter der dunklen Nadelholzkuppel stand, kam es ihr vor, als hätte sie den Wald durch seinen übelsten Hinterausgang, als hätte sie ihn geradezu durch seinen After betreten, so von Abfällen übersät war hier die Gegend. An den Zweigen, als wären es Caféhausständer, hingen Papierfetzen und Kleiderreste, Limodosen und Schutzgummis lagen auf dem Nadelteppich, die Steine hatten schwarze Rußflecken, leere Plastikbehälter und Hähnchenknochen umgaben sie, ein zerrissener Liegestuhl, ein giftgrüner Gummistiefel, Zeitungen, Watte, Polaroidschachteln, lauter scheußlicher, schlüpfriger Unrat bedeckte den Boden. Die Kauffrau bückte sich unter den tiefhängenden, abgestorbenen Kieferzweigen hinweg und suchte auf einen sauberen, bequemen Weg zu kommen. Da herrschte sie plötzlich eine schrille Weiberstimme an. »Verzieh dich!« schallte es durch das öde Gehölz. Sie fuhr herum und entdeckte die junge Einsiedel-Nutte, die auf drei aufgestapelten Autoreifen hockte und neben einem Spirituskocher ihre nackten Beine wärmte. Auf ihrem runden Gesicht lag die grelle Schminke fad und zerlaufen, im halb verwilderten Haar stak ein Kranz violetter Kleeblüten. Sie trug nichts weiter als einen langen, durchlöcherten Pullover, der bis auf die Oberschenkel reichte und aus dem viele lose Maschen heraushingen, sowie ein Paar hohe Korksandalen an den bloßen Füßen. Die Kauffrau, zu diesem Zeitpunkt ihrer Wanderung noch nicht um Spott und Geistesgegenwart verlegen, betrachtete ihre schiefe, verworfene Geschlechtsgenossin ein wenig herablassend und fragte, wie sie denn hier im abgelegenen Forst überhaupt auf ihre Kosten, nämlich auf eine genügende Anzahl von Freiern käme. Die junge Waldhure griff nach einem Stein und drohte ihn dem Eindringling an den Kopf zu schleudern. Doch ließ sie den dürren, ungelenk zum Wurf ausholenden Arm kurz darauf wieder sinken und erklärte mit gedämpfter Stimme: »Hier ist noch keiner an mir vorbei. Wenn er nur kommt, so läßt er die Gelegenheit nicht aus. Das ist im Wald eben so. Sonst aber ist mein Zuhaus drüben in der Jagdhütte. Jedenfalls die Woche über, wenn der Bonze nicht da ist.« Die Anlageberaterin wendete sich in die vom Hurenkinn gewiesene Richtung, und wirklich, dort sah sie an einem frischen Montagvormittag dies selbe Mädchen unter der offenen Dusche stehen, die neben der Hütte im Freien angebracht war. Hinter einer hölzernen Klappjalousie seifte sie die Achseln und die hochgestreckten Arme. Im dichten Wassergespreng bildete sich ein großer, mehrpfündiger Fisch und floß an ihr herunter.

»Ja, das ist nicht schlecht«, sagte die Kauffrau nach einem kurzen Blick auf den Wochenbeginn, »man könnte dich beneiden.«  - Botho Strauß, Der junge Mann. München 1984

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