ahrnehmung  Jean Piaget, der Begründer der kognitiven Kinderpsychologie, hat Kinder schon in den zwanziger Jahren zum Schatten befragt. Die Fünfjährigen dachten, Schatten seien die aus der Nacht übrig gebliebenen Wolken. Die Siebenjährigen begriffen, dass ein Schatten stets zu einem Gegenstand gehört. Doch erst die Neunjährigen erkannten, dass dieser Gegenstand eine Lichtquelle abschirmen muss.

Neuere Experimente widerlegen diese Ergebnisse aber zum Teil. Demnach glauben schon Fünfjährige, dass Schatten zu Gegenständen gehören und sich nachts in diese verkriechen. - Roberto Casati (Spiegel 11/2000)

Wahrnehmung (2)  Sehen wir auch nur den hunderttausendsten Teil dessen, was es gibt? Nehmen Sie nur einmal den Wind, der die größte Naturkraft ist, Menschen umwirft, Gebäude einstürzen läßt, Bäume entwurzelt, das Meer zu Wasserbergen aufpeitscht, die Klippen zerbricht, mächtige Wogen über die großen Schiffe schleudert, den Wind, der tötet, der pfeift, der stöhnt, der brüllt - haben Sie ihn gesehen, und können Sie ihn sehen? Und dennoch gibt es ihn! - (nov)

Wahrnehmung (3)  Jede Wahrnehmung gilt rein für sich und hängt nicht ab von Verstand und Gedächtnis; denn sie wird weder durch sich selbst bewegt, noch kann sie, von etwas anderem bewegt, irgend etwas hinzusetzen oder wegnehmen. Auch gibt es nichts, was sie widerlegen könnte; denn es kann weder eine gleichartige Wahrnehmung eine gleichartige widerlegen, denn die eine hat ja denselben Wert wie die andere, noch die ungleichartige die ungleichartige, denn der Gegenstand ihrer Beurteilung ist ja ein verschiedener; ebensowenig der Verstand, denn der Verstand hängt durchweg von den Sinneswahrnehmungen ab; überhaupt kann keine die andere widerlegen, denn unsere Aufmerksamkeit ist auf alle in gleicher Weise gerichtet. Und der tatsächliche Bestand des unmittelbaren Wahrnehmungsgefühls bürgt auch für die Wahrheit der Wahrnehmungen. Nun hat aber unser Sehen und Hören ebenso wie die Empfindung des Schmerzes tatsächlichen Bestand. Daher muß man auch von dem Sichtbaren ausgehen, um sich das Unsichtbare zu deuten. Hat doch auch unsere ganze Gedankenwelt ihren Ursprung in den Wahrnehmungen, deren mannigfache Umstände, Analogie- und Ähnlichkeitsverhältnisse sowie Zusammensetzung für sie bestimmend sind, wobei allerdings auch die Überlegung als mitwirkend auftritt. Und was die Vorstellungen der Wahnsinnigen sowie die Traumerscheinungen anlangt, so sind auch sie wahr, denn sie haben wirkende Kraft; das Nichtseiende dagegen hat keine wirkende Kraft.  - Epikur, nach (diol)

Wahrnehmung (4)  Von den Vorstellungen sind ihnen (den Stoikern) zufolge die einen sinnlich wahrnehmbar, die andern nicht. Sinnlich wahrnehmbar diejenigen, die man durch einen oder mehrere Sinne empfängt, nicht wahrnehmbar solche, die durch das Denkvermögen aufgefaßt werden, wie die von den unkörperlichen Dingen und allem, was sonst noch durch den bloßen Verstand erfaßt wird. Bei den sinnlichen Wahrnehmungen bildet sich die Vorstellung auf der Grundlage wirklich vorhandener Dinge, die unserseits Nachgiebigkeit und Zustimmung zur Folge haben. Es gibt aber auch Scheinbilder von den Vorstellungen, die sich ausnehmen, als stammten sie von wirklich vorhandenen Dingen her.

Ferner sind die Vorstellungen teils vernünftig, teils unvernünftig; vernünftig die der vernünftigen Geschöpfe, unvernünftig die der unvernünftigen; die vernünftigen sind Denkerzeugnisse, die unvernünftigen entbehren eines besonderen Namens. Auch sind die einen künstlerischer, die ändern unkünstlerischer Art, Anders nämlich betrachtet der Künstler ein Bild, anders der Nichtkünstler.

Wahrnehmung (Sinn-Empfindung) heißt bei den Stoikern der Geisteshauch, der von der leitenden Stelle aus zu den Sinneswerkzeugen gelangt, sowie das durch diese bewirkte Ergreifen und auch die ganze Einrichtung der Sinneswerkzeuge, in bezug auf welche manche zu kurz weggekommen sind. Auch die Tätigkeit des Sinnes wird Wahrnehmung genannt.

Das Ergreifen vollzieht sich nach ihnen teils durch die Empfindung, wie die vom Weißen und Schwarzen, Rauhen und Glatten, teils durch den Verstand bei dem durch Beweis Einzusehenden, z. B. daß Götter seien und Vorsehung üben, denn bei dem, was durch Denken erkannt wird, liegt die Anregung zum Denken teils in zufälligen Umständen, teils in der Ähnlichkeit, teils in der Analogie, teils in der Versetzung, teils in der Zusammensetzung, teils in der Entgegensetzung. Auf zufällige Veranlassung wird das Sinnliche gedacht, nach Ähnlichkeit auf Anregung durch irgendeinen sich bietenden Gegenstand, wie der Gedanke an Sokrates durch sein Bild erweckt wird, nach Analogie aber teils vergrößernd wie beim Tityos und beim Kyklopen, teils verkleinernd wie bei den Pygmäen; auch das Zentrum der Erde wird nach Analogie gedacht nach dem Vorbild kleinerer Kugeln; nach Versetzung, z. B. die Augen auf der Brust; nach Zusammenstellung bildet sich die Vorstellung des Hippokentauros, nach Entgegensetzung die des Todes.   - Stoiker, nach (diol)

Wahrnehmung (5)  Alles werde erklärt und durch diese Erklärungen gleichermaßen vernichtet. Man befinde sich in einem Vernichtungslager der Erklärungen. Niemand könne sich mehr auf seine Sinne verlassen, einfach etwas hören, sehen, schmecken, riechen oder fühlen, sondern müsse das Gehörte, Gesehene, Geschmeckte, Gerochene und Gefühlte erläutert und erklärt bekommen, da die Sinne sich in ihrer atavistischen Rückschrittlichkeit allein auf Wahrnehmung beschränkten, wo doch Wahrnehmung schon lange nicht mehr ausreiche, um noch zu wissen, wo man sich überhaupt befinde und wo vorn und hinten sei und gegen wen es gehe und warum.

Es reiche schon lange nicht mehr, von etwas begeistert oder gelangweilt zu sein, man müsse auch wissen, warum man begeistert oder gelangweilt sei. Aber genau dieses Warum könnten die Sinne nicht liefern, weshalb die Wahrnehmungen der Sinne von den Erklärungen überlagert und verdrängt würden. Wenn es einmal geheißen habe, daß jegliche Kunst zur reinen Form der Musik dränge, so dränge längst jegliche Kunst zur reinen Erklärung der Philosophie. Alles wolle nur noch Philosophie sein und sich und anderes erklären. Dieses Erklären aber entstehe aus einer Angst vor den Wahrnehmungen der Sinne. Allein auf seine Sinne gestellt, verfalle der Zuschauer vor der Kunst in Panik. Und nicht nur vor der Kunst, sondern natürlich auch vor dem Leben, denn die reine Wahrnehmung überfordere den Menschen, weshalb er sich Wahrnehmungssysteme errichte, angefangen von Raum und Zeit über genetische Fingerabdrücke und Wärmediagramme bis hin zu abfragbaren Epochen und Stilrichtungen. Mit diesen Wahrnehmungssystemen befinde sich alles jederzeit geordnet auf seinem Platz, habe die Wahrnehmung ihren Schrecken verloren und sei damit besiegt.  - (rev)

Wahrnehmung (6)  Aus diesen Wechselbeziehungen zu den DINGEN, welche er durch sein Denken zu beeinflussen gewohnt war (das tun wir schließlich alle, und es ist keineswegs gewiß, ob es einen, wenn auch nur zeitlichen, Unterschied gibt zwischen dem Denken, dem Wollen und dem Handeln), ergab sich, daß er weder sein Denken von seinem Handeln, noch sein Träumen von seinem Wachen unterschied; und indem er die Leibnizsche Definition, wonach die Perzeption eine wahre Halluzination ist, auf die Spitze trieb, sah er nicht ein, weshalb er nicht sagen sollte: die Halluzination ist ein falsche Perzeption, oder genauer: eine schwache, oder noch besser: eine vorausgesehene (zuweilen auch erinnerte, was auf dasselbe hinausläuft). Und vor allem dachte er, daß es ausschließlich Halluzinationen gibt, oder ausschließlich Perzeptionen, und daß es weder Tage noch Nächte gibt (dem Titel dieses Buches zum Trotz, weshalb er auch gewählt wurde); und daß das Leben ein Kontinuum ist; daß man aber ohne diese Pendelausschläge überhaupt nicht merken würde, daß es ein Kontinuum ist, ja nicht einmal, daß es ist; macht man doch die Lebensprobe zuerst am Herzschlag. Es ist sehr wichtig, daß es überhaupt schlägt; ob aber die Diastole ein Ruhen der Systole sei, und ob diese kleinen Tode das Leben in Gang hielten, eine Erklärung, die schiere Behauptung ist, das scherte Sengle ebensowenig wie jener beliebige Klugschwätzer, von dem dieselbe auch stammen mochte.  - Alfred Jarry, Tage und Nächte. Roman eines Deserteurs. Frankfurt am Main 1998 (zuerst 1897)

Wahrnehmung (7)  Die Wahrnehmung im allgemeinen wie insbesondere das Gesicht sei eine Art besonders warmen Hauches. Daher heißt es von ihm auch, daß es durch die Luft und durch das Wasser sehe. Denn das Warme erfahre einen Gegendruck vom Kalten. Wäre nämlich der Hauch in den Augen kalt, so würde er von der gleichartigen Luft getrennt bleiben; so aber findet sich gegensätzliche Luft in den Augen, welche er (Pythagoras) Pforten der Sonne nennt. Dasselbe lehrt er vom Gehör und den übrigen Sinnen.  - Pythagoreer, nach (diol)

Wahrnehmung Schatten
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