achsen  Mittlerweile war sie in ein sauber aufgeräumtes kleines Zimmer gelangt, mit einem Tisch unter dem Fenster, und darauf lagen (ganz wie sie gehofft hatte) ein Fächer und zwei oder drei Paar winzige weiße Glacéhandschuhe; den Fächer und ein Paar Handschuhe nahm sie mit und wollte gerade wieder aus dem Zimmer laufen, als ihr Blick auf ein Fläschehen fiel, das in der Nähe des Spiegels stand. Diesmal war kein Schildchen daran mit der Aufschrift ›Trink mich mich‹, aber sie entkorkte es trotzdem und führte es an die Lippen. »Irgend etwas Interessantes passiert ja immer«, sagte sie sich, »sobald ich etwas esse oder trinke; ich will doch einmal sehen, wie diese Flasche hier wirkt. Hoffentlich läßt sie mich wieder größer werden denn langsam bin ich es wirklich leid, so winzig klein herumzulaufen.

Das tat die Flasche denn auch, und zwar erheblich schneller, als Alice gedacht hatte: sie hatte noch kaum die Flasche halb geleert, als sich ihr Kopf auch schon gegen die Decke preßte und sie sich bücken mußte, um nicht das Genick zu brechen. Rasch stellte sie die Flasche wieder zurück und sagte sich dabei: »So genügt es vollständig — hoffentlich wachse ich nicht noch weiter — durch diese Tür passe ich ohnehin schon nicht mehr — ich wünschte wirklich, ich hätte nicht so viel davon getrunken«.

Ja, dazu war es freilich zu spät. Sie wuchs weiter und weiter und sah sich sehr bald gezwungen, am Boden niederzuknien; aber selbst dazu war es im nächsten Moment schon zu eng geworden, und sie versuchte, ob es nicht günstiger wäre, wenn sie sich ausstreckte und dabei einen Ellbogen gegen die Tür stützte und sich den anderen Arm um den Kopf schlang. Und noch immer wuchs sie weiter, so daß ihr schließlich nichts weiter übrigblieb, als einen Arm zum Fenster hinauszuzwängen und ein Bein den Kamin hinauf, und sich dann zu sagen: »Mehr geht nun nicht mehr, was auch geschehen mag. Was soll nur aus mir werden ?« - Lewis Carroll, Alice im Wunderland (Frankfurt am Main 1970. Insel-Bücherei 896, zuerst 1865)

Wachsen (2) Was in irgend etwas anderes hineingeht, wächst nicht. Was aber in die Frau hineingeht, wächst, wenn es das findet, was ihm zukommt. Es bilden sich alle Glieder zu gleicher Zeit aus, und sie wachsen und keins früher als das andere und auch nicht später. Die aber, die ihrer Natur nach größer sind, werden früher als die kleinen sichtbar, ohne daß sie früher entstehen. Es werden aber nicht alle Körper in der gleichen Zeit ausgebildet, sondern der eine schneller, der andere langsamer, je nachdem ein jeder das Feuer und die Nahrung findet. Die einen haben in vierzig Tagen alles sichtbar, andere in zwei Monaten, andere in dreien, andere in vieren. Ebenso wird auch das eine schneller zur Geburt reif und ist in sieben Monaten vollständig, das andere langsamer und ist in neun Monaten vollständig. Sie treten ans Licht in der Mischung, die sie in aller Zukunft haben werden.  - (hi)

Wachsen (3)  Liudprand von Cremona, der Gesandte Ottos I., hat folgenden Bericht über seinen Empfang beim byzantinischen Kaiser hinterlassen.

›Vor dem Thron des Kaisers stand ein eherner, aber vergoldeter Baum, dessen Zweige erfüllt waren von Vögeln verschiedener Art, ebenfalls von Erz und vergoldet, die sämtlich, ein jeder nach seiner Art, den Gesang der verschiedenen Vögel ertönen ließen. Der Thron des Kaisers aber war so künstlich gebaut, daß er in einem Augenblick niedrig, im nächsten größer und gleich darauf hoch erhaben schien. Löwen von ungeheurer Größe, ich weiß nicht, ob aus Metall oder aus Holz, aber mit Gold überzogen, standen gleichsam als Wächter des Throns, indem sie mit dem Schweife auf den Boden schlugen und mit offenem Rachen und beweglicher Zunge ein Gebrüll erhoben. In diesem Saale also wurde ich, unterstützt von zwei Verschnittenen, vor das Antlitz des Kaisers geführt. Bei meinem Eintritt brüllten die Löwen, und die Vögel zwitscherten jeder nach seiner Weise, mich aber ergriff weder Furcht noch Staunen, da ich mich nach allem diesen bei Leuten, welche damit wohlbekannt waren, genau erkundigt hatte.

Als ich nun zum drittenmal niedergefallen war und den Kopf emporrichtete, da erblickte ich ihn, den ich vorher auf einer mäßigen Erhöhung hatte sitzen sehen, fast bis an die Decke der Halle emporgehoben und mit anderen Kleidern angetan als vorher. Wie dieses zugegangen, kann ich nicht begreifen, es sei denn, daß er in derselben Weise wie die Bäume der Kelterpressen gehoben wurde. Mit eigenem Mund sprach der Kaiser bei dieser Gelegenheit kein Wort: denn wenn er es auch gewollt hätte, so wäre solches wegen der großen Entfernung nicht anständig gewesen. Durch seinen Logotheten aber oder Kanzler erkundigte er sich nach Leben und Wohlergehen meines Herrn. Nachdem ich darauf in gebührender Weise geantwortet hatte, trat ich auf den Wink des Dolmetschers ab und ward in die mir angewiesene Herberge geführt.‹ - (cane)

Wachsen (4)  Aus meinem Hindämmern weckte mich jäh die Tatsache, daß ich mir plötzlich einer merkwürdigen körperlichen Empfindung bewußt wurde. Mein eines Bein schien allmählich länger zu werden als das andere, der Grund, auf den ich es setzte, gab anscheinend nach, und mit jedem Schritt schien der Boden vor einer Berührung mit der Sohle meines Fußes mehr und mehr zurückzuweichen. Ganz unmerklich wuchs nun auch das andere Bein, bis sich bei mir die Vorstellung entwickelte, ich ginge auf hohen Stelzen. Jedesmal, wenn ich einen Fuß auf den Boden setzte, war es mir, als klänge der Widerhall des Aufsetzens aus ungeheuren Tiefen in seltsam metallischem Klingen an mein Ohr, etwa wie wenn man Wasser in einen tiefen Brunnen gießt und nach langen Sekunden den klatschenden, von den Wänden klirrend zurückgeworfenen Aufprall wahrnimmt. Und immer länger wuchsen die Stelzen an meinen Füßen, immer ferner und verworrener und geheimnisvoller klang von der Tiefe her der Widerhall an mein Ohr, bis ich eine solche Länge erreicht hatte, daß sich der Schwerpunkt meines Körpers oben in der Luft nicht mehr halten konnte und kopfüber nach vorn stürzte. Merkwürdigerweise aber fiel ich nicht zu Boden, und ich mußte mich darüber wundern, denn ich hatte einen Augenblick lang den harten Aufschlag gefürchtet, sondern die Wucht des aus solcher Höhe nach vorn schwingenden Körpers war so groß, daß ich wie im Kreise wieder nach oben geschleudert wurde und dann wieder nach unten und wieder nach oben, bis ich mich mit zunehmender Geschwindigkeit im rasenden Wirbel etwa wie ein Feuerrad frei in der Luft herumdrehte. - Arno Hach, Das Schloß an der Landstraße. In: Jenseits der Träume. Seltsame Geschichten vom Anfang des Jahrhunderts. Hg. Robert N. Bloch. Fankfurt am Main 1990 (st 1595, zuerst 1920)

Wachsen (5)  Ein kleiner Junge, der seine Großmutter nach den großen Steinen, den Menhiren, fragte und woher sie wohl kämen und wozu, bekam in geheimnisvoll-vertraulichem Ton die Antwort: «Mein Kind, früher wohnten die Zwerge - Kenons - in diesen Steinen. Dort hatten sie ihre Wohnung und ihre Küche.» Und wenn das Kind sich wunderte, daß so winzige Leute wie Zwerge die riesigen Steine hatten bewegen können, antwortete die Großmutter: «Früher waren die Leute stärker als heute, auch waren diese Steine viel leichter und kleiner. Seitdem sind sie gewachsen. Die wachsen nämlich wie die Bäume. » - Ré Soupault, Nachwort zu (bret)

Wachsen (6)  Pierre ging seines Weges, und als er nach Hause kam, setzte er sich an seinen Herd; aber da schwoll der Dorn plötzlich übermäßig an, und ein großer Baum wuchs aus seinem Fuß in den Kamin hinauf. So war er verurteilt, den Platz, an dem er saß, nicht zu verlassen. - (bret)

Wachsen (7)  Als der Junge zehn Jahre alt war, hatte er mehr als sechs Fuß Länge. Dabei war er dünn wie eine Angelrute, und seine Füße maßen von den Knöcheln an anderthalb Fuß und waren sdimal wie ein Daumen. Was das Laufen anbelangt, übertraf ihn kein Jagdhund oder Windspiel in ganz Irland. Er ging selten aus dem Hause; denn die Leute machten sich über ihn lustig. Beim Ballschleudern brauchte Caoilte keinen Krückstock, sondern er trieb den Ball mit den Füßen. Und hatte er ihn erst vor sich, so holte keiner ihn ein! Die Jahre vergingen, und Caoilte wuchs. Mit einundzwanzig Jahren hatte er eine Länge von mehr als siebeneinhalb Fuß. Aber er war noch nicht dicker geworden, als er mit zehn Jahren gewesen war. An ihm saß gerade soviel Fleisch wie an einer Zange. Dabei bekam er genug zu essen und zu trinken. Er verzehrte mehr als sieben Mann! Die Leute meinten, er wäre gar kein richtiger Mensch, sondern ein alter Stock. Und Eingeweide hätte er auch nicht. Jedoch Diarmuid und Roise fanden, es gäbe im ganzen Lande keinen halb so ansehnlichen jungen Mann wie ihn, und sie meinten, er würde schon noch dicker und fetter werden, wenn er nur erst mit Wachsen aufhörte; das Fleisch würde dann schon kommen. Indessen, es kam nicht. - (ir)

Wachsen (8) Der Riese Pangu wurde als Zwerg aus dem Urei, also dem Chaos geboren, das sich nach 18.000 Jahren in seine schweren und leichten Bestandteile zerlegte. Aus der unteren Hälfte wurde die Erde (Yin), aus der oberen Hälfte wurde der Himmel (Yang). So wie Pangu langsam zum Riesen wuchs – er wuchs jeden Tag 10 Fuß,

 Schielender Riese

dadurch verdichtete sich die Erde jeden Tag um 10 Fuß nach unten und der Himmel hob sich entsprechend – drückte er die Eierschalen immer weiter auseinander, bis er schließlich selbst auseinanderbrach. Es gibt lange und unterschiedliche Auflistungen, was aus seinen Körperteilen wurde: Aus seinen Augen wurden Sonne und Mond, aus seinem Kopf entstanden die vier heiligen Berge, sein Fett oder Blut wurde zu Meeren und Flüssen, aus den Haaren wurden Gras und Bäume, der Atem wurde Wind, Schweiß zu Regen, die Stimme zu Donner und die Flöhe auf seiner Haut wurden (nach einem späten Mythos) schließlich zu den Vorfahren der Menschen.  - Wikipedia

Wachsen (9)  Das Wachsen ist ein Auslöschen des Ich, denn alles, was man von sich weiß, muß ausgelöscht werden. Es muß aufhören, weil das So-Sein wissen soll, daß es Jemand in dir gibt, der ihm ein Ende bereiten will und kann. Man braucht nicht über den Menschen, wie er heute lebt, zu irren: Auch er macht immerwährend sein Ich erlöschen, denn in all den Überlegungen, die es in ihm gibt, schafft er sich um, aber er nimmt für sich immerwährend neue Rechte. Nirgends ist ein Ich erkennbar erhalten. Es wird neu aber falsch gebaut: falsch wird es ausgestattet, umgeben von Unrechthabern wird es hingestellt, erhaben, spielerisch in seinen Varianten. Nirgends in der Welt, die der Mensch kennt, ist Neues anders gebaut worden als durch das Essen des Vergangenen. Und es ist gut, solche kleinen Gewißheiten zu haben.  - Ernst Fuhrmann, Der Weg in die Zukunft. Nach (fuhr)


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