orstadt

In ihrem Viertel, in dem Gassenkot,
wo sich der große Mond durch Dünste drängt
und sinkend an dem niedern Himmel hängt,
ein ungeheurer Schädel, weiß und tot,

da sitzen sie die warme Sommernacht
vor ihrer Höhlen schwarzer Unterwelt
im Lumpenzeuge, das vor Staub zerfällt
und aufgeblähte Leiber sehen macht.

Hier klafft ein Maul, das zahnlos auf sich reißt.
Hier hebt sich zweier Arme schwarzer Stumpf.
Ein Irrer lallt die hohlen Lieder dumpf,
wo hockt ein Greis, des Schädel Aussatz weißt.

Es spielen Kinder, denen früh man brach
die Gliederchen. Sie springen an den Krücken
wie Flöhe weit und humpeln voll Entzücken
um einen Pfennig einem Fremden nach.

Aus einem Keller kommt ein Fischgeruch,
wo Bettler starren auf die Gräten böse.
Sie füttern einen Blinden mit Gekröse.
Er speit es auf das schwarze Hemdentuch.

Bei alten Weibern löschen ihre Lust
die Greise unten, trüb im Lampenschimmer,
aus morschen Wiegen schallt das Schreien immer
der magren Kinder nach der welken Brust.

Ein Blinder dreht auf schwarzem, großem Bette
den Leierkasten zu der Carmagnole,
die tanzt ein Lahmer mit verbundener Sohle.
Hell klappert in der Hand die Castagnette.

Uraltes Volk schwankt aus den tiefen Löchern,
an ihre Stirn Laternen vorgebunden.
Bergmännern gleich, die alten Vagabunden.
Um einen Stock die Hände, dürr und knöchern.

Auf Morgen geht's. Die hellen Glöckchen wimmern
zur Armesündermette duch die Nacht.
Ein Tor geht auf. In seinem Dunkel schimmern
Eunuchenköpfe, faltig und verwacht.

Vor steilen Stufen schwankt des Wirtes Fahne,
ein Totenkopf mit zwei gekreuzten Knochen.
Man sieht die Schläfer ruhn, wo sie gebrochen
um sich herum die höllischen Arkane.

Am Mauertor in Krüppeleitelkeit
bläht sich ein Zwerg in rotem Seidenrocke,
er schaut hinauf zur grünen Himmelsglocke,
wo lautlos ziehn die Meteore weit.

- Georg Heym, nach (mus) 

Vorstadt (2)  Früher, so kommt es mir vor, muß  alles sündhafter gewesen sein. Da waren offenbar die Angelegenheiten der Lust mehr auf Gefährlichkeit abgestimmt. Wo heute Reinhardts Kammerspiele erlesene Kunstleistungen darbieten, dunstete ehedem ein purpurn und goldener Tanzsaal. Da drehten sich vor unseren erschrockenen jungen Augen hohe Korsettgestalten in vertragenen Ballroben mit Büsten, die manchmal bis an die Brustwarze nackt waren, welche Tüll verhüllte und betonte. Knisternde Jupons quälten unsere Sinne, und wenn zu einem etwas schwerfälligen Cancan die Röcke gerafft wurden und grelle Stimmen den Gassenhauer von der Pflaume am Baume sangen, erging es uns nicht gut. Verständigere fanden in den Sälen der Vorstädte etwas fürs Herz, in Südende und Halensee, wo brave Mädchen mit Grundsätzen und Beruf den sogenannten ›Bruch‹ überwogen. Sie hatten rotgewaschene Hände und merkwürdige Veilchenparfums, die in dauerndem Widerstreit mit der Natur lagen. - (hes)

Vorstadt (3) Es roch im ganzen Viertel nach einer gewissen Engstirnigkeit und Rückschrittlichkeit in klarem Gegensatz zu den Straßennamen; und es roch nach ziemlich scheinheiliger Zugeknöpftheit sowie, bezeichnender  noch, nach  Kerzenstummeln und  schmutziger Wäsche. Nicht daß die würdevolle Gesetztheit der Einwohner allzu sehr darunter gelitten hätte, doch wäre das Viertel einem unkundigen Besucher allemal als ein Bereich von Menschen erschienen, die sich zumeist in halber Trauer befanden und stets eine verschwitzte Nase hatten. Und endlich wäre es ihm so vorgekommen, als habe sich über alles und jedes ein unmerkliches graues Stäubchen gelegt.

Auch die Sprache dieser Menschen, ein nicht näher zu bestimmender Vorstadtdialekt, war schlaff und ein wenig scheinheilig: die Anzüglichkeiten der Händler gingen zwar bis zur Anstößigkeit, ein Bereich, den die geistlich Gewandeten sehr mochten, erstreckten sich jedoch nie bis zur Obszönität.   - Tommaso Landolfi, Zwei späte Jungfern. Reinbek bei Hamburg 1996 (Zuerst 1946)

Vorstadt (4)

Das Vorstadt-Kabarett

Verschweißte Kellnerköpfe ragen in den Saal
Wie Säulenspitzen hoch und übermächtig.
Verlauste Burschen kichern niederträchtig,
Und helle Mädchen blicken hübsch brutal.

Und ferne Frauen sind so sehr erregt...
Sie haben hundert rote runde Hände,
Gebärdelose, große, ohne Ende
Um ihren hohen bunten Bauch gelegt.

Die meisten Menschen trinken gelbes Bier.
Verruchte Krämer glotzen grau und bieder.
Ein feines Fräulein singt gemeine Lieder.
Ein junger Jude spielt ganz gern Klavier.

- Alfred Lichtenstein

Vorstadt (5)   In ihrer Atmosphäre der Verlassenheit sind sie alle gleich. Jene, die die stolzesten Städte der Erde umsäumen, sind die schlimmsten. Sie stinken wie Schanker. Wenn ich auf meine Vergangenheit zurückblicke, kann ich kaum etwas anderes sehen, etwas anderes riechen als diese eitrigen, leeren Quartiere, diese Schuttabladeplätze, ein wahlloses Durcheinander aus Abfall und Kehricht, aus den verlassen daliegenden Maschinenteilen, Vasen und Pißpötten, weggeworfen von den mit Armut geschlagenen, hoffnungslosen, hilflosen Geschöpfen, die die Bevölkerung dieser Stadtteile ausmachen. In Augenblicken gehobener Stimmung habe ich mir meinen Weg mitten durch den Nepp und die Schlachthäuser dieser Viertel gebahnt und bei mir gedacht: Was für ein Gedicht! Was für ein Dokumentar-Film! Oft kam ich nur durch Fluchen und Zähneknirschen wieder zu mir, durch die Flucht in wilde, sinnlose Wutanfälle, durch die Vorstellung eines gütigen Diktators, der schließlich »Ordnung, Frieden und Gerechtigkeit« wiederherstellte. Wochen und Monate haben mich die Vorstellungen von solchen Experimenten verfolgt. Aber es gelang mir nie, eine passende Musik zu machen. (Und wenn ich bedenke, daß Erik Satie, dessen Domizil uns Robert Doisneau auf einem seiner Fotos zeigt, wenn ich bedenke, daß dieser Mann in einem verrückten Hause auch noch »Musik machte«, stehen mir die Haare zu Berge.) Nein, es ist mir nie gelungen, diese taube Materie in Musik zu verwandeln.  - Henry Miller, Nachwort zu: Blaise Cendrars, Wahre Geschichten. Zürich 1979

Vorstadt (6, US-amerikanische)

 

- Bill Owens

Vorstadt (7)

Vorstadtpoem

Solange nicht in der Ödnis des Ruhms
Die Lippen verdorren und die Worte
Werd ich besingen Vorstadt-Brücken, Plätze,
Werd ich besingen einfache Orte.

Solang ich nicht im Netz gefangen
Und mich zu beugen nicht geschafft
Werd ich besingen das innerste Leben,
Werde ich nehmen die äußerste Kraft.

Der Schornsteine Klagen.
Das In-Gärten-Hocken.
Die Spaten und Zähne.
Der Geschorenen Locken.

Die Weide verkümmert.
Das Leben ohne Schonbelag.
Hier riecht es nach Blut.
Ohne Datum der Tag.

Schwitzend und dick
Schwitzend und dünn!
Wie auf Gemälden:
»Nun ja, wir sind drin.«

Wie auf Gemälden,
Gebrüll der Gebornen,
Oder in Hymnen,
Gebrüll der Geschornen.

Höllenkreis, ja -
Und Gartenrunde,
Für Fraun und Soldaten,
Kinder,
Hunde.

»Paradies mit Fäustepumpen?
Keine Austern -
Keine Schalen?
Keine Kronleuchter,
Aber Lumpen?!«

Umsonst geweint: Jedem -
Das Seine.

Leidenschaft auf Rost gebraten
Und Dynamit in der Hand.
Die Vorstadt brennt!
Hier steht vieles in Brand!

Hier gibts Haß, groß und ganz.
Die Schußlinie stimmt!
Hier gibts Überschwemmung.
Die Vorstadt schwimmt!

Morgendärnmernde Stille.
Hier weint und heult es mit Gesang,
Hier gehn die Jungen: «So siehst du aus!«
Mit ihren Bewachern entlang.

Hier zahlt man mit Gott und Teufel,
Mit Futtersack, Buckel und Knoten.
Hier singt die Jugend über sich selbst
Wie über einen Toten.

Hier gibts Mütter, die ihr Kind im Schlaf ersticken.
Brücken, Sandbänke, Schlagbaumkreuze.

Hier gibts Väter, die ihr Kind an den Kaufmann vertrinken
            Sträucher, Brennesselkreuze -

- laß mich frei!
- verzeih.

- Marina Zwetajewa (Übs. Christa Reinig), nach: M. Z., Vogelbeerbaum. Hg. Fritz Mierau. Berlin 1986

Vorstadt (8)  Wir bogen in die Grójeckastraße ein - Staub, Kehricht, Lärm, Gerüche —, die großen Häuser sind zu Ende, hier fangen die kleinen an, und unwahrscheinliche Wagen mit der ganzen jüdischen Habe, mit Gemüsen, Federn, Milch, Krautköpfen, Getreide, Heu, altem Eisenzeug und Abfall erfüllten die Straße mit Gerassel, Geklirr und Gestucker. Auf jedem Wagen schüttelte es einen Bauern oder Juden - städtischer Bauer oder ländlicher Jude - man weiß nicht, was besser ist. Immer tiefer und immer wesentlicher dringen wir in die schlechtere Zone ein, in die unreife Vorstadt der Stadt, mehr und mehr gibt es kaputte Zähne, Watte in den Ohren, mit Läppchen verbundene Finger, mit Fett beschmierte Haare, Rülpser, Mitesser, Krautköpfe und Vergammeltes, das stinkt. Windeln trocknen in den Fenstern, das Radio schwatzt ohne Unterlaß, in vollem Gange ist die Aktion der Aufklärung und Bildung, und zahlreiche Pimkos bilden mit künstlich naiver und warmer, oder rauher, lustiger Stimme den Bäckern und Krämern die Seelen, halten Vorträge über die Pflichten und lehren Kosciuszko lieben. Eigentümer von Grünzeugläden delektieren sich in billigen Zeitungen an den Beschreibungen des Lebens höherer Gesellschaftskreise, und ihre Frauen, sich den Rücken kratzend, erleben noch einmal den gestrigen Abend mit Marlene Dietrich. Die pädagogische Aktion ist in vollem Gange, unzählige weibliche Delegierte tummeln sich unter dem Volk, lehrend und belehrend, Einfluß nehmend und entwickelnd, weckend und zivilisierend, mit ad hoc vereinfachten Mienen. Dort tanzt eine Gruppe des Frauenvereins der Straßenbahn-Angestellten im Reigen, singend und lächelnd, und produziert Lebensfreude unter der Leitung eines eigens dazu delegierten, speziell freudestrahlenden Intelligenzler-Lustigmachers. Woanders singen Droschkenkutscher im Chor ein Kirchenlied und produzieren eine sonderbare Unschuld, und dort wieder lernen gewesene Bauerndirnen die Schönheit von Sonnenuntergängen zu entdecken. Und Dutzende von Konzipienten, Doktrinären, Demagogen und Agitatoren reformieren und formieren, ihre Konzeptionen, Doktrinen, Anschauungen und Ideen säend, alle für das simple Volk speziell vereinfacht und zubereitet.

»Fresse, Fresse!« sagte Mjentus ordinär wie immer. »Ganz wie bei uns in der Schule! Kein Wunder, daß Krankheiten sie beißen, daß sie das Elend drückt - solch ein Gesindel kann man nicht anders als drücken und beißen. Was für ein Teufel hat sie so zugerichtet? Ich bin überzeugt, daß sie gar nicht imstande wären, so viel Scheußlichkeiten, so viel Mist und Ekelhaftes zu machen, wenn sie nicht von jemand speziell dazu abgerichtet worden wären. Warum kriecht das aus ihnen so heraus, und warum nicht aus einem Bauern, der sich doch niemals wäscht? Wer, frage ich, hat aus diesem guten, braven Proletariat eine solche Mistfabrik gemacht? Wer hat ihnen diesen Dreck und diese Grimassen beigebracht? Sodom und Gomorra - hier finden wir keinen Bauernbengel. Weiter! Wir müssen weiter! Wo wird denn endlich Wind wehen?«  - (fer)

Vorstadt (9)

- Nino Migliori

Vorstadt (10)

Vorstadt (11) Noch immer durch die Vorstadt. Gottes stille Mahnungen, die in telefonischer Umleitung an sein Ohr gekommen waren, für ihn zunächst nur Furien der Ausweglosigkeit sein konnten, am Netzwerk der Straßenbahnoberleitung segelnd, begleiteten Arlecq, als er auf quietschvergnügten Rädern der Linie 18 rausfuhr zur Endstelle. Blickpunkte Meilensteine auf der Fahrt durch die  schmale  Vorstadtstraße  waren  rechts  einmal  die Grenzdrogerie mit ihren Farbtöpfen Wermutflaschen Verhütungsmitteln, wenig später dann, immer entlang der Bordsteinkante, in Höhe der Fensterreihen im Erdgeschoß, wo Gardinen der Fahrt nachwehten, die wellblecherne Bedürfnisanstalt zur Linken, durch die hindurch  die  diensttuenden Beamten  der  ratsherrlichen Vorstadtgemeinde nach Feierabend schritten, einmal ums Rondell wie durch eine Drehtür, die Hose auf- und zuknöpfend, den Dienst so bis zur Morgenstunde hat Gold im Munde quittierend. Über die beiden Schulgebäude sah Arlecq lieber hinweg, die Bahn legte sich auch, kaum daß die Schaffnerin an der Klingelleine riß, nach rechts kühn in die Kurve, und die Kirche kam links in Sicht, mit dem ummauerten Garten des Pastors, der Paradiesäpfel züchtete, die klein wie Kirschen eigentlich nur einen ästhetischen Wert haben konnten, sah man von ihrer bibelverwandten Namensgebung ab, mit der es aber auch nicht weit her war. Die Kirche der evangelischen Gemeinde, zehn Uhr markierte das Zifferblatt, der Tag war noch jung und gottesfürchtig blau. Hübner, der Maler der Engel und Propheten, stand im linken Seitenschiff auf einem Gerüst. Seine hinter dicken Gläsern qualligen Augen fuhren liebevoll den Linien nach, die seine Hand ins Mauerwerk ritzte: ein geschuppter Engelsflügel entstand so aus seinen kleinsten Elementen, im ganzen aber zunächst nur wie der gestreckte Leib eines Fisches anzusehn. Die eisernen Räder der Bahn, abermals in die Kurve gehend, schliffen die Schienen nun im höchsten Diskant, der, über der ganzen Vorstadt hörbar, eine akustische Grenze zog. Dort wo der Ton sich im Wind verlor, konnte es sich nur um einen anderen Bezirk der Stadt handeln. Einmal in der Zielgeraden, nahm die Bahn die Strecke in gleitender Fahrt. Die Szenerie wechselte jäh. Die im Hintergrund gerade niedergehenden Schranken des Vorortbahnhofes schufen nur eine zeitweilige Barriere. In Wirklichkeit war hier schon die Auenlandschaft mit ihrer von Kanälen, Flüssen und Wäldern unterbrochenen Weitläufigkeit. Dahinein die Dekoration der kommenden und gehenden Straßenbahnen an der Endstation, die Dekoration des Bahnhofs mit den gemächlichen Zügen, die immer älterer Bauart waren, dennoch angekläfft von den Dackeln des Försters, der gleich hinter der Schranke sein Haus hatte, von Wildenten träumte und Jagdscheine unterschrieb, die Linke spielerisch im Barthaar vergraben.  - Fritz Rudolf Fries, Der Weg nach Oobliadooh. Leipzig 1993 (zuerst 1975)
 
 

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