In ihrem Viertel, in dem Gassenkot, da sitzen sie die warme Sommernacht Hier klafft ein Maul, das zahnlos auf sich reißt. Es spielen Kinder, denen früh man brach Aus einem Keller kommt ein Fischgeruch, Bei alten Weibern löschen ihre Lust Ein Blinder dreht auf schwarzem, großem Bette Uraltes Volk schwankt aus den tiefen Löchern, Auf Morgen geht's. Die hellen Glöckchen wimmern Vor steilen Stufen schwankt des Wirtes Fahne, Am Mauertor in Krüppeleitelkeit |
- Georg Heym, nach (
mus
)
Vorstadt (2) Früher, so kommt es mir vor, muß alles
sündhafter gewesen sein. Da waren offenbar die Angelegenheiten der Lust
mehr auf Gefährlichkeit abgestimmt. Wo heute Reinhardts
Kammerspiele erlesene Kunstleistungen darbieten, dunstete ehedem ein purpurn
und goldener Tanzsaal. Da drehten sich vor unseren erschrockenen jungen Augen
hohe Korsettgestalten in vertragenen Ballroben mit Büsten,
die manchmal bis an die Brustwarze nackt waren, welche
Tüll verhüllte und betonte. Knisternde Jupons quälten unsere Sinne, und wenn
zu einem etwas schwerfälligen Cancan die Röcke gerafft wurden und grelle Stimmen
den Gassenhauer von der Pflaume am Baume sangen, erging es uns nicht gut. Verständigere
fanden in den Sälen der Vorstädte etwas fürs Herz, in Südende und Halensee,
wo brave Mädchen mit Grundsätzen und Beruf den sogenannten ›Bruch‹ überwogen.
Sie hatten rotgewaschene Hände und merkwürdige Veilchenparfums, die in dauerndem
Widerstreit mit der Natur lagen. - (
hes
)
Vorstadt (3) Es roch im ganzen Viertel nach einer gewissen Engstirnigkeit und Rückschrittlichkeit in klarem Gegensatz zu den Straßennamen; und es roch nach ziemlich scheinheiliger Zugeknöpftheit sowie, bezeichnender noch, nach Kerzenstummeln und schmutziger Wäsche. Nicht daß die würdevolle Gesetztheit der Einwohner allzu sehr darunter gelitten hätte, doch wäre das Viertel einem unkundigen Besucher allemal als ein Bereich von Menschen erschienen, die sich zumeist in halber Trauer befanden und stets eine verschwitzte Nase hatten. Und endlich wäre es ihm so vorgekommen, als habe sich über alles und jedes ein unmerkliches graues Stäubchen gelegt.
Auch die Sprache dieser Menschen, ein nicht näher zu bestimmender Vorstadtdialekt,
war schlaff und ein wenig scheinheilig: die Anzüglichkeiten der Händler gingen
zwar bis zur Anstößigkeit, ein Bereich, den die geistlich Gewandeten sehr mochten,
erstreckten sich jedoch nie bis zur Obszönität.
- Tommaso Landolfi, Zwei späte Jungfern. Reinbek bei Hamburg 1996 (Zuerst
1946)
Vorstadt (4)
Das Vorstadt-Kabarett Verschweißte Kellnerköpfe ragen in den Saal Und ferne Frauen sind so sehr erregt... Die meisten Menschen trinken gelbes Bier. |
Vorstadt (5) In ihrer Atmosphäre
der Verlassenheit sind sie alle gleich. Jene, die die stolzesten Städte
der Erde umsäumen, sind die schlimmsten. Sie stinken
wie Schanker. Wenn ich auf meine Vergangenheit
zurückblicke, kann ich kaum etwas anderes sehen, etwas anderes riechen
als diese eitrigen, leeren Quartiere, diese Schuttabladeplätze, ein wahlloses
Durcheinander aus Abfall und Kehricht, aus den verlassen daliegenden Maschinenteilen,
Vasen und Pißpötten, weggeworfen von den mit Armut geschlagenen, hoffnungslosen,
hilflosen Geschöpfen, die die Bevölkerung dieser Stadtteile ausmachen.
In Augenblicken gehobener Stimmung habe ich mir meinen Weg mitten durch
den Nepp und die Schlachthäuser dieser Viertel gebahnt und bei mir gedacht:
Was für ein Gedicht! Was für ein Dokumentar-Film! Oft kam ich nur durch
Fluchen und Zähneknirschen wieder zu mir, durch die Flucht in wilde, sinnlose
Wutanfälle, durch die Vorstellung eines gütigen Diktators, der schließlich
»Ordnung, Frieden und Gerechtigkeit« wiederherstellte. Wochen und Monate
haben mich die Vorstellungen von solchen Experimenten verfolgt. Aber es
gelang mir nie, eine passende Musik zu machen. (Und wenn ich bedenke, daß
Erik Satie, dessen Domizil uns Robert Doisneau auf einem
seiner Fotos zeigt, wenn ich bedenke, daß dieser Mann in einem verrückten
Hause auch noch »Musik machte«, stehen mir die Haare zu Berge.) Nein, es
ist mir nie gelungen, diese taube Materie in Musik zu verwandeln. - Henry
Miller, Nachwort zu: Blaise Cendrars, Wahre Geschichten. Zürich 1979
Vorstadt (6, US-amerikanische)
Vorstadt (7)
Vorstadtpoem Solange nicht in der Ödnis des Ruhms Solang ich nicht im Netz gefangen Der Schornsteine Klagen. Die Weide verkümmert. Schwitzend und dick Wie auf Gemälden, Höllenkreis, ja - »Paradies mit Fäustepumpen? Umsonst geweint: Jedem - Leidenschaft auf Rost gebraten Hier gibts Haß, groß und ganz. Morgendärnmernde Stille. Hier zahlt man mit Gott und Teufel, Hier gibts Mütter, die ihr Kind im Schlaf ersticken. Hier gibts Väter, die ihr Kind an den Kaufmann vertrinken - laß mich frei! |
- Marina Zwetajewa (Übs. Christa Reinig), nach: M. Z., Vogelbeerbaum.
Hg. Fritz Mierau. Berlin 1986
Vorstadt (8) Wir bogen in die Grójeckastraße ein - Staub, Kehricht, Lärm, Gerüche —, die großen Häuser sind zu Ende, hier fangen die kleinen an, und unwahrscheinliche Wagen mit der ganzen jüdischen Habe, mit Gemüsen, Federn, Milch, Krautköpfen, Getreide, Heu, altem Eisenzeug und Abfall erfüllten die Straße mit Gerassel, Geklirr und Gestucker. Auf jedem Wagen schüttelte es einen Bauern oder Juden - städtischer Bauer oder ländlicher Jude - man weiß nicht, was besser ist. Immer tiefer und immer wesentlicher dringen wir in die schlechtere Zone ein, in die unreife Vorstadt der Stadt, mehr und mehr gibt es kaputte Zähne, Watte in den Ohren, mit Läppchen verbundene Finger, mit Fett beschmierte Haare, Rülpser, Mitesser, Krautköpfe und Vergammeltes, das stinkt. Windeln trocknen in den Fenstern, das Radio schwatzt ohne Unterlaß, in vollem Gange ist die Aktion der Aufklärung und Bildung, und zahlreiche Pimkos bilden mit künstlich naiver und warmer, oder rauher, lustiger Stimme den Bäckern und Krämern die Seelen, halten Vorträge über die Pflichten und lehren Kosciuszko lieben. Eigentümer von Grünzeugläden delektieren sich in billigen Zeitungen an den Beschreibungen des Lebens höherer Gesellschaftskreise, und ihre Frauen, sich den Rücken kratzend, erleben noch einmal den gestrigen Abend mit Marlene Dietrich. Die pädagogische Aktion ist in vollem Gange, unzählige weibliche Delegierte tummeln sich unter dem Volk, lehrend und belehrend, Einfluß nehmend und entwickelnd, weckend und zivilisierend, mit ad hoc vereinfachten Mienen. Dort tanzt eine Gruppe des Frauenvereins der Straßenbahn-Angestellten im Reigen, singend und lächelnd, und produziert Lebensfreude unter der Leitung eines eigens dazu delegierten, speziell freudestrahlenden Intelligenzler-Lustigmachers. Woanders singen Droschkenkutscher im Chor ein Kirchenlied und produzieren eine sonderbare Unschuld, und dort wieder lernen gewesene Bauerndirnen die Schönheit von Sonnenuntergängen zu entdecken. Und Dutzende von Konzipienten, Doktrinären, Demagogen und Agitatoren reformieren und formieren, ihre Konzeptionen, Doktrinen, Anschauungen und Ideen säend, alle für das simple Volk speziell vereinfacht und zubereitet.
»Fresse, Fresse!« sagte Mjentus ordinär wie immer. »Ganz wie bei uns in der
Schule! Kein Wunder, daß Krankheiten sie beißen, daß sie das Elend drückt -
solch ein Gesindel kann man nicht anders als drücken und beißen. Was für ein
Teufel hat sie so zugerichtet? Ich bin überzeugt, daß sie gar nicht imstande
wären, so viel Scheußlichkeiten, so viel Mist und Ekelhaftes zu machen, wenn
sie nicht von jemand speziell dazu abgerichtet worden wären. Warum kriecht das
aus ihnen so heraus, und warum nicht aus einem Bauern, der sich doch niemals
wäscht? Wer, frage ich, hat aus diesem guten, braven Proletariat eine solche
Mistfabrik gemacht? Wer hat ihnen diesen Dreck und diese Grimassen beigebracht?
Sodom und Gomorra - hier finden wir keinen Bauernbengel. Weiter! Wir müssen
weiter! Wo wird denn endlich Wind wehen?« - (
fer
)
Vorstadt (9)
Vorstadt (10)
Vorstadt (11)
Noch immer durch die Vorstadt. Gottes stille Mahnungen, die in telefonischer
Umleitung an sein Ohr gekommen waren, für ihn zunächst nur Furien der Ausweglosigkeit
sein konnten, am Netzwerk der Straßenbahnoberleitung
segelnd, begleiteten Arlecq, als er auf quietschvergnügten Rädern der Linie
18 rausfuhr zur Endstelle. Blickpunkte Meilensteine auf der Fahrt durch die
schmale Vorstadtstraße waren rechts einmal die
Grenzdrogerie mit ihren Farbtöpfen Wermutflaschen Verhütungsmitteln, wenig später
dann, immer entlang der Bordsteinkante, in Höhe der Fensterreihen im Erdgeschoß,
wo Gardinen der Fahrt nachwehten, die wellblecherne Bedürfnisanstalt zur Linken,
durch die hindurch die diensttuenden Beamten der ratsherrlichen
Vorstadtgemeinde nach Feierabend schritten, einmal ums Rondell wie durch eine
Drehtür, die Hose auf- und zuknöpfend, den Dienst so bis zur Morgenstunde hat
Gold im Munde quittierend. Über die beiden Schulgebäude sah Arlecq lieber hinweg,
die Bahn legte sich auch, kaum daß die Schaffnerin an der Klingelleine riß,
nach rechts kühn in die Kurve, und die Kirche kam links in Sicht, mit dem ummauerten
Garten des Pastors, der Paradiesäpfel züchtete, die klein wie Kirschen eigentlich
nur einen ästhetischen Wert haben konnten, sah man von ihrer bibelverwandten
Namensgebung ab, mit der es aber auch nicht weit her war. Die Kirche der evangelischen
Gemeinde, zehn Uhr markierte das Zifferblatt, der Tag war noch jung und gottesfürchtig
blau. Hübner, der Maler der Engel und Propheten, stand im linken Seitenschiff
auf einem Gerüst. Seine hinter dicken Gläsern qualligen Augen fuhren liebevoll
den Linien nach, die seine Hand ins Mauerwerk ritzte: ein geschuppter Engelsflügel
entstand so aus seinen kleinsten Elementen, im ganzen aber zunächst nur wie
der gestreckte Leib eines Fisches anzusehn. Die eisernen Räder der Bahn, abermals
in die Kurve gehend, schliffen die Schienen nun im höchsten Diskant, der, über
der ganzen Vorstadt hörbar, eine akustische Grenze zog. Dort wo der Ton sich
im Wind verlor, konnte es sich nur um einen anderen Bezirk der Stadt handeln.
Einmal in der Zielgeraden, nahm die Bahn die Strecke in gleitender
Fahrt. Die Szenerie wechselte jäh. Die im Hintergrund gerade niedergehenden
Schranken des Vorortbahnhofes schufen nur eine zeitweilige Barriere. In Wirklichkeit
war hier schon die Auenlandschaft mit ihrer von Kanälen, Flüssen und Wäldern
unterbrochenen Weitläufigkeit. Dahinein die Dekoration der kommenden und gehenden
Straßenbahnen an der Endstation, die Dekoration des Bahnhofs mit den gemächlichen
Zügen, die immer älterer Bauart waren, dennoch angekläfft von den Dackeln des
Försters, der gleich hinter der Schranke sein Haus hatte, von Wildenten träumte
und Jagdscheine unterschrieb, die Linke spielerisch im Barthaar vergraben. - Fritz Rudolf Fries, Der Weg nach Oobliadooh. Leipzig
1993 (zuerst 1975)
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