orsichtsmaßregel  Wenn Sie ein Verbrechen begehen wollen, so müssen Sie folgende allgemeine Vorsichtsmaßregeln treffen. Erwägen Sie erst einige Tage vorher Ihren Plan, bedenken Sie alle seine Folgen und prüfen Sie genau, was Ihnen zur Ausführung dienlich sein kann.. Wenn es sich um einen Mord handelt, müssen Sie daran denken, daß es kein so verlassenes Wesen auf Erden gibt, das Ihnen durch seinen Tod nicht schaden könnte. Sobald Sie einmal zu einer solchen Tat entschlossen sind, handeln Sie möglichst allein, müssen Sie aber einen Komplicen gebrauchen, dann trachten Sie, ihn so sehr an der Tat mitzubeteiligen, daß es ihm unmöglich gemacht wird, Sie zu schädigen.

Wenn Sie aus Ihrem Verbrechen einen Nutzen ziehen wollen, so dürfen Sie niemals öffentlich davon sprechen, denn das wird Sie sicher verraten. Wenn Ihre Untat Ihr Vermögen vergrößert hat, so verändern Sie einige Zeit nachher noch weder Ihre Lebensführung noch Ihren Aufwand, denn auch daran könnte man Verdacht schöpfen.

Trachten Sie nach der vollbrachten Tat allein zu sein, denn das Gesicht ist der Spiegel der Seele und unsere Züge zeigen, wenn wir es auch nicht wollen, trotzdem, was in unserem Innern vorgeht. Gewöhnen Sie sich überhaupt an, über das Spiel Ihres Ausdruckes zu herrschen und lassen Sie in Ihren Gesichtszügen immer Ruhe und Gleichgültigkeit erscheinen; das erreichen Sie aber nur durch große Gewohnheit, Verbrechen zu begehen.

Wenn Sie aber nicht sicher sind und noch Gewissensbisse empfinden können und würden Sie vergeblich an der Beherrschung Ihres Gesichteausdruckes arbeiten, deshalb dürfen Sie nicht auf halbem Wege stehen bleiben; Sie würden die unglücklichste Frau der Welt werden, wenn Sie nur ein Vergehen ausführen wurden. Entweder Sie beginnen gar nicht, oder Sie überhäufen sich in Untaten. Nur die Häufigkeit kann Ihre Gewissensbisse ersticken. Übrigens dürfen Sie auch niemals den Grad eines Verbrechens in Ihre Erwägung ziehen. Er darf in Ihren Gedanken keine Rolle spielen. Je größer das Verbrechen ist, desto mehr Vorsichtsmaßregeln müssen Sie treffen, während man bei kleineren sich leicht gehen läßt.

Verwenden Sie soviel als möglich die Heuchelei. Sie ist in der Welt notwendig, und man hält selten denjenigen für verbrecherisch, der allem gegenüber Gleichgültigkeit zeigt. Nicht jeder ist so unglücklich und so ungeschickt wie Tartüffe; übrigens darf man auch die Heuchelei nicht so weit treiben, die Tugend anbeten zu wollen; man muß sich nur darauf beschränken, gegenüber den Verbrechen gleichgültig zu sein. Sie dürfen die Tugend nicht verehren, aber Sie dürfen auch nicht das Verbrechen lieben. Und diese Art Heuchelei wird niemals erraten werden, weil sie den Stolz der Mitmenschen nicht reizt, während die Art Heuchelei des Helden Molieres notwendigerweise den Unwillen der Mitmenschen erregt.

Vermeiden Sie Zeugen mit derselben Sorgfalt, mit der Sie Gehilfen wählen. Gewöhnlich bringen beide den Verbrecher an den Pranger. Sagen Sie niemals: mein Sohn, mein Diener, meine Kammerfrau wird mich nicht verraten, denn auch diese Leute können Sie auf eine Art denunzieren, die Sie gleichfalls ins Verderben stürzen kann.

Flüchten Sie sich hauptsächlich niemals in die Arme der Religion. Sie wird Ihre Seele mit Furcht erfüllen und Sie werden schließlich Ihr eigener Henker werden.  - (just)

Vorsichtsmaßregel (2)  Logische Strenge ist eine Sache, eine andere die schon fast instinktive Gewohnheit, Grundwahrheiten Einfältigen oder Narren in den Mund zu legen. Denken wir an die Verehrung, die der Islam den Schwachsinnigen zollt, weil seiner Auffassung nach ihre Seelen zum Himmel entführt worden sind; denken wir an die Worte der Heiligen Schrift, die von der Auserwähltheit des Toren sprechen, zur Beschämung der Weisen. Oder - wenn uns konkrete Beispiele lieber sind — denken wir an Manalive von Chesterton, diesen Berg von Einfalt, wenn man das Werk von außen betrachtet, aber darinnen ein Abgrund göttlicher Weisheit; oder an jenen Johannes Scotus, der den Gedanken aussprach, der beste Name für Gott sei Nihilum (Nichts) und der sagte: »Er selbst weiß nicht, was er ist, weil er kein Was ist.« Der Kaiser Moctezuma sagte, die Narren erteilten bessere Lehren als die Weisen, weil sie sich getrauten, die Wahrheit zu sagen; Flaubert (der schließlich und endlich kein strenges Beweisverfahren, keine Destructio Philosophorum erarbeitete, sondern eine Satire) mag sehr wohl die Vorsichtsmaßregel getroffen haben, seine äußersten Zweifel und seine geheimsten Befürchtungen Bouvard und Pécuchet, zwei Unzurechnungsfähigen,  anzuvertrauen. - Jorge Luis Borges, Kabbala und Tango. Essays. Frankfurt am Main (Fischer-Tb., zuerst 1931)
 
 

Regel Vorsicht

 

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