orratskammer
Ich frage mich, ob das Leben je meine Begierden stillen wird. Zwischen den Flaschen
mit eingemachtem Apfelsaft, zu denen ich auch ein enges Verhältnis habe, humpelt
eine kleine Kröte hervor und sieht zu mir auf, im Dämmer
fast nur ein Klumpen Schmutz, heftig pulsierend
mit häßlichen Atemzügen. So verharrt sie. Und nun?
- Walter E. Richartz, Drei Tage Regen,
drei Tage Schnee.
In: W.E.R., Das Leben als Umweg. Zürich 1988
Vorratskammer
(2) Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die hatten
zwei Kinder: einen Sohn und eine Tochter. Die Tochter liebten sie, den Sohn
aber nicht. Und als der Hunger zu ihnen kam, da hatten sie kein Krümchen Brot
mehr und kein Stäubdien Mehl. Was sollten sie nun beginnen? »Wir wollen unseren
Sohn schlachten«, sagten sie, »er ist uns zu nichts nütze!« Da nahmen sie ihn
und schlachteten ihn, doch das Fleisch stellten sie in die Vorratskammer, damit
die Tochter es nicht sehen sollte. Die beiden aber, Sohn und Tochter, hatten
sich sehr lieb gehabt: das eine aß nie etwas ohne das andere und ging auch nirgends
hin ohne das andere; immer, immer waren sie beisammen! Mit einem Wort, sie waren
wie Bruder und Schwester. Als die Eltern den Bruder geschlachtet hatten, fragte
die Tochter: »Vater, wo ist mein Brüderchen?« Der Alte antwortete: »Ach, es
ist irgendwohin spielen gegangen.« Da wartete sie und wartete, aber es kam nicht;
dann fragte sie die Mutter: »Mutter, Mutter! Wo ist denn mein Brüderchen, daß
es so lange fortbleibt? Seit es fortging, ist es auch verschwunden!« »Lauf ich
denn hinter ihm her? Laß mich zufrieden!« antwortete die Mutter. Die Tochter
aber merkte bereits etwas und war schon fast von Sinnen. Doch gegen Abend machte
es sich so, daß der Alte und sein Weib für eine Weile fortgingen, da fing die
Tochter sofort an zu suchen. Sie suchte lange, lange und guckte in alle Winkel.
Als sie aber in die Vorratskammer hineinschaute — da fand sie ihn. Wie flossen
ihr die Tränen über das Gesicht! - Russische Märchen. Hg. Reinhold
Olesch. München 1959 (Diederichs, Märchen der Weltliteratur)
Vorratskammer (3) Ganz am Ende der Höhle lagen sie in größeren Haufen zusammengeschichtet, ein Gewimmel von Fühlern, Kiefern und Füßen. Offene Scheren ragten in die Höhe und schlössen sich nicht mehr; Knochengerüste lagen regungslos unter ihrer Stachelkruste, einige zeigten, auf dem Rücken liegend, ihre leeren Schalen. Das ganze dichte Gewirr von Stacheln glich einem Heer von Belagerern. Unter diesem Haufen lag das Skelett.
Zwischen dem Durcheinander von Fühlern und Schalen schimmerte der Schädel hervor mitsamt dem Rückgrat, den Schenkeln, den Schienbeinen und den langen gekrümmten Fingern mit ihren Nägeln. Der Brustkorb, in dem einst ein Herz geschlagen hatte, lag voll Krabben, Meerschimmel bekleidete die Augenhöhlen; Schlüsselmuscheln hatten ihren Schleim in die Nasengruben entleert. Kein Lufthauch rührte sich in diesem Felswinkel, alles lag totenstill da. Kein Tang, kein Seegras wuchs hier. Grinsend zeigte der Totenschädel seine Zähne. Das Entsetzliche am Lächeln ist seine Ähnlichkeit mit dem verzerrten Grinsen des Totenkopfes.
Der wunderbare, mit allen Edelsteinen des Meeres überzogene Palast des Abgrundes hatte sich endlich enthüllt und sein Geheimnis offenbart. Er war eine Räuberhöhle, denn das Seeungeheuer wohnte darin, und er war ein Grab, denn ein Toter ruhte in ihm.
Das unbewegliche Skelett und die toten Tiere schienen auf gespenstische Weise im Widerschein der unterirdischen Gewässer zu schwanken. Das entsetzliche Gewühl der Krabben schien eben am Gerippe genagt und seine Mahlzeit beendet zu haben.
Es war ein sonderbarer Anblick, wie das tote Gewürm über seiner toten Beute lag, ein finsteres Sinnbild des unaufhörlich sich fortsetzenden Todes.
Was Gifliatt vor Augen hatte, war die Vorratskammer des Kraken.
Ein düsteres Bild, das die Vorgänge in der Höhle enthüllte. Die Krabben
hatten den Leichnam aufgefressen, und der Krake hatte
die Krabben verzehrt. - Victor Hugo, Die Arbeiter des Meeres, Leipzig
1954 (zuerst 1866)
|
||
![]() |
||
![]() |
![]() |
|
![]() |
||
|
|
|
![]() ![]() |
![]() ![]() |