Vorlesen   Der Text, der beim Lesen etwas greifbar Vorhandenes ist, an dem du dich reiben mußt, erscheint im Falle der mündlich vorgetragenen Übersetzung als etwas zugleich Vorhandenes und Nichtvorhandenes, Ungreifbares.

Hinzu kommt, daß der Professor Uzzi-Tuzii seine mündliche Übersetzung anfangs so vorgetragen hatte, als sei er sich nicht ganz sicher, ob er die Wörter richtig zusammenbringt: Ständig war er auf die Perioden zurückgekommen, um ihre syntaktischen Zotteln und Fransen auszubürsten, hatte die Sätze gedreht und gewendet, bis sie sich gänzlich entknautschten, hatte sie durchgewalkt, gekämmt und gebügelt, sich bei jedem Wort aufgehalten, um seine idiomatischen Färbungen und seine Nebenbedeutungen zu erläutern, hatte dazu gewundene Gesten gemacht, gleichsam als Aufforderung, sich mit ungefähren Äquivalenten zu begnügen, hatte sich unterbrochen, um auf grammatikalische Regeln, etymologische Herleitungen und Zitate von Klassikern hinzuweisen. Schon glaubtest du, dem Professor seien die Philologie und Gelehrsamkeit wichtiger als das, was die Geschichte erzählt - da ging dir langsam auf, daß es in Wahrheit umgekehrt ist: Diese ganze gelehrte Verpackung dient nur als schützende Hülle für das, was die Erzählung sagen und ungesagt lassen will, für den inneren Atem ihres Geistes, der sich beim geringsten Kontakt mit der Luft zu verflüchtigen droht, für das Echo eines verschollenen Wissens, das sich im Halbschatten und in den verschwiegenen Andeutungen offenbart.

Im Konflikt zwischen der Notwendigkeit, mit seinen erhellenden Kommentaren einzugreifen, um dem Text beim Freilegen seiner Bedeutungsvielfalt hilfreich zur Seite zu stehen, und dem Bewußtsein, daß jedes Interpretieren Willkür ist und dem Text Gewalt antut, fand der Professor bei manchen besonders vertrackten Passagen keine andere Lösung, als dir die Stelle im Original vorzulesen. Der Klang jener unbekannten Sprache, erschlossen aus theoretischen Regeln, nicht überliefert durch lebendige Stimmen mit ihren individuellen Akzenten, nicht gezeichnet von den Spuren des formenden und verformenden Gebrauchs, erreichte die Absolutheit von Klängen, die keine Entsprechung mehr haben, wie der Gesang des letzten überlebenden Exemplars einer ausgestorbenen Vogelart oder das grelle Aufheulen des soeben fertiggestellten Prototyps eines neuen Düsenjägers, der beim ersten Testflug am Himmel zerbirst.   - Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht. München 2007 (Zuerst 1979)

Vorlesen (2)   Die Forderung der Polin war bescheiden, ich hätte auch das Doppelte dafür gegeben, daß sie die fragmentierte Bildgeschichte meines Comics mit ihrer Übersetzung untersprach. Ich hörte Hellas Freundin zu. Gehockt auf einen kleinen, offenbar defekten Fernseher, das rote Jäckchen auf dem Schoß, spürte ich zunächst nichts als ihr recht gutes Deutsch in meinen Ohren. Fast machte es mich schläfrig, vorgelesen zu bekommen - als meine Nervenapparatur aus dem Gehänge zwischen meinen Schenkeln erneut die lang entbehrten Impulse registrierte. Ich schloß die Augen, und mein Verstand vermochte das schwache Signal deutend zu verstärken. Das Kribbeln und das Zucken freuten mich sehr. Es war mir eine liebe Tradition geworden, ein kostbarer, im wahrsten Sinne eingefleischter Brauch, daß ich den sonst wie abgestorbenen Teilen, wenn sie sich während eines Auftrags wieder regten, rasch die Gelegenheit verschaffte, ihren Dienst zu tun. Es juckte mich, ich rutschte hin und her, griff mir unter dem Schutz des Seidenjäckchens tief in die rechte Hosentasche.  - Georg Klein, Barbar Rosa. Eine Detektivgeschichte. Berlin 2001
 

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