organg   Ich schritt durch das Lager; es war auffallend, wie still es heute war. Die Traummenschen lagen da und sahen sich gegenseitig unter gesenkten Lidern hervor an. Alles schien gedrückt und beklommen, diese Leute erwarteten etwas. Plötzlich vernahm man ein anschwellendes Summen und verhaltenes Lachen über die ganze Ebene hin. Ein Schrecken ergriff mich! Das war wie der jähe Ausbruch einer geistigen Krankheit. — Und wie wenn mit einem Male ein Sturm heranbraust, fielen die Geschlechter übereinander her.

Nichts wurde verschont, weder Familienbande noch Krankheit und Jugend. Kein menschliches Wesen konnte sich dem elementaren Trieb entziehen, man suchte gierig vorgequollenen Auges einen Körper, um sich an ihn anzuklammern.

Ich stürzte zur Ziegelei und versteckte mich. Durch ein kleines Loch in der Mauer sah ich etwas Schreckliches.

Stöhnen und Ächzen war ringsumher, dazwischen schnitten schrille Schreie und vereinzelte tiefe Seufzer; ein Meer von nacktem Fleisch wallte und zitterte. Kühl und unbeteiligt empfand ich das sinnlos Mechanische des krassen Vorgangs. Ich konnte nicht umhin, etwas insektenhaft Groteskes in dem konvulsivischen Schaupiel zu finden. Ein Blutdunst durchdrang die ganze Gegend; der Schein der Lagerfeuer zuckte über den Fleischtaumel hin, einzelne Gruppen besonders hervorhebend. Ich erinnere mich lebhaft eines bärtigen älteren Mannes, der auf der Erde kauerte und in den Schoß einer Schwangeren starrte.   - Alfred Kubin, Die Andere Seite. München 1975 (zuerst 1909)

Vorgang (amtlicher)   Das Versenden eines Pakets per Nachnahme ist eine Prozedur, die aus einer Reihe sehr einfacher Vorgänge besteht. Jedes Paket wird von einem Formular in vierfacher Ausfertigung begleitet, vier Zettel, die etwas kleiner sind als eine Postkarte. Auf das Formular schreibt man Absender, Empfanger, den Betrag, den der Empfänger bei der Entgegennahme bezahlen muß, die Zahlungsweise (wir als Buchhandlung zum Beispiel lassen uns das Geld auf unser Postbankkonto überweisen, aber man kann sich auch eine Anweisung schicken lassen). Das erste Blatt, auf das man hinten die Briefmarken aufklebt, heißt Begleitschein und wird, zusammen mit dem zweiten Blatt (Empfangsschein) und dem schon ausgefüllten und auf die Buchhandlung lautenden Anweisungsschein, in einen durchsichtigen Plastikbeutel mit einer selbstklebenden Seite gesteckt, der auf das Paket geklebt wird. Das dritte Blatt, Amtsakten, bleibt im Postamt (später werden dann alle Daten des Pakets in ein eigenes Register eingetragen). Das vierte Blatt ist meine Quittung. Jeder der vier Zettel muß in der rechten unteren Ecke abgestempelt werden, wo ein Feld dafür vorgesehen ist; der Begleitschein wird auch hinten gestempelt, um die Briefmarken zu entwerten. Im Feld rechts oben auf dem Begleitschein wird der Abschnitt mit der fortlaufenden Nummer des Pakets befestigt (ein gleicher, nur ein wenig größerer Abschnitt wird mir durch den Schalter hindurch gereicht, und ich klebe ihn auf das Paket, neben die Etikette mit der Adresse: So ist jedes Paket dank der Nummer mit seinem Begleitschein verbunden, und auf diese Weise hat die Welt ihre Ordnung). Dieselbe Nummer muß mit der Hand in ein Feld auf dem Begleitschein eingetragen werden; die Formulare sind durchschreibend, und so kann man die Nummer auch auf dem Empfangsschein, auf den Amtsakten und auf der Quittung lesen.  - Giulio Mozzi, Vanessa, in: Italia fantastica! Berlin 1997 (WAT 280)

Vorgang (3)  Eines Abends - Giovanni war naß bis auf die Haut geworden, und das Wasser quietschte in seinen Schuhen - zog ihn ein Frauenzimmer zu sich herein und schloß die Tür. Der Vorgang war rasch, fad und verworren. Die stärkste Empfindung hatte er, als er die noch feuchten und kalten Kleider wieder auf seinem fieberglühenden Körper fühlte. Er erkrankte am gleichen Abend und erzählte am nächsten Tag, von Hustenanfällen unterbrochen, sein Erlebnis den beiden Freunden, die an seinem Bett saßen. Vielleicht hätte sich nun die Kluft zwischen ihm und dem Weib in einer nicht wiedergutzumachenden Weise vertieft, wenn es nicht ein Dienstmädchen vom Land auf sich genommen hätte, ihm die Wahrheit über die Frau in einer seinen Vorstellungen nicht allzu unwürdigen Weise zu enthüllen. - Vitaliano Brancati, Don Giovanni in Sizilien. Zürich 1987 (zuerst 1942)

Vorgang (4) Aus der Ferne kam es, traumhaft trat es in ihn ein. Es ist Staub, der redet, fühlte er; die Wüste warf es hin. Dann, immer voller trat die Stunde um das Haus; ein Schlag aus Nebel, gelöst und pressend, ein Windstoß murmelte an die Mauer prüfend, was sie hielt.

Irgend etwas ging vor sich; niemand wußte was. Die Herren waren erregt und fliegend, sie bäumten sich vor Rede und Gegenrede, wurden zackig vor Stellungnahme und von Eigenstem rauh.

Schon bogen sich die  Fenster, schien es Diesterweg,  ins Zimmer, und die Herren: sie traten von einem Fuß auf den ändern und traten wie auf Wasser,  als ob sie sich absonderten und festigten, jeder einzelne in sich hinein, und da fuhr einer mit der Handfläche an seinen Linien auf und ab, um seinen Schädel, ob er nicht zerfiele. Vor  dem Fenster aber,  schien es Diesterweg, stand  das Weiße eines Auges, der heiße Strich eines Pfiffes scholl. ums Haus - das ist der Dämon, schrie Diesterweg, der holt alles heim, das er einst geschieden, in Wasser und in Veste - und rüstete den letzten Gang. Da war der Saal und da waren die Tische. Da waren die Ärzte, da war der Herr. Da war der Mensch, der sich zu schaffen trachtete, der sich in Formen trieb in Ängsten vor dem All,  da war die Menschheit,   die  das  Bewußtsein trug,   doch  nie  erlitten hatte - und da war er, dem dies geschehn. Er hatte es erlitten, er erlebt. Er war gehürnt mit seinem Drängen, seinen Aufbau trug er wie ein Fell, er schüttete es hin, er lächelte, die Schläfe ein wenig blaß vom Glück der Untergänge.  - Gottfried Benn, Diesterweg. In: G. B., Prosa und Szenen. Ges. Werke Bd. 2. Wiesbaden 1962

 

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