or-Todes-Ruhe
Auf der Höhe der Greisenhaftigkeit tritt so etwas wie eine Vor-Todes-Ruhe
ein. Der Alte ist nur noch gelangweilt. Die Dinge gleiten an ihm vorbei; »ob
man sie ansah oder schlief, kam ungefähr auf eins heraus«. Nicht einmal Jugenderinnerungen
plagen ihn mehr; sein Blick ist nach vorne gerichtet, und vorne ist nichts mehr.
Womit soll ein Greis seine Tage ausfüllen? Die Menschen
sind zu lange alt; sie haben zuviel Gelegenheit, das bißchen aktives Dasein
nachträglich zu bedenken. Die Gewißheit des baldigen Todes könnte jeden Alten
dazu ermutigen, auch vor schrillen und herausfordernden Befriedigungen nicht
zurückzuschrecken. Wenn einmal das Gefühl vorherrscht, daß das Leben aus dem
Leim geht, brauchen auch die Erlebnisse nicht mehr zu stimmen. Svevos
Greis lernt Felicita kennen, eine Tabakhändlerin, die ihre Einkünfte durch Prostitution
verbessert. Der Greis besucht und bezahlt Felicita regelmäßig; das Geld, das
er ihr gibt, sind seine Gefühle, die sonst niemand mehr haben will. Seinen Besuchen
bei Felicita fehlt jegliches abenteuerlich-verruchte Moment; im Gegenteil: »Ich
empfand meinen Entschluß, mir eine Geliebte zu nehmen, so, als schickte ich
mich an, in die Apotheke zu gehen.« - Wilhelm Genazino, Achtung Baustelle.
Frankfurt am Main 1998
|
||
|
||