olksdichter Rodolfo
Coelho Cavalcante ist ein Volkssänger, den ich 1973 in seiner Wohnung in
einem Vorort von Salvador da Bahia besuchen konnte. Cavalcantes »Vertrieb«
befand sich am Lacerda-Lift in der Altstadt von Salvador - man muß nämlich
wissen, daß die Volksdichter ihre Romanzen zunächst vortragen und dann
in Gestalt dünner Heftchen verkaufen und von
diesem Verkauf ihren Lebensunterhalt bestreiten. Da ein Teil der Hörerschaft
analphabetisch ist, muß man annehmen, daß jeweils ein lesekundiges Familienmitglied
die Flugschriften erwirbt und dann allen Angehörigen vorliest. Auf Cavalcantes
Heftchen prangte das Foto des lächelnden Autors samt der Einladung, ihn
in seiner Wohnung aufzusuchen, und das taten wir denn auch. Zu unserem
Glück war der Meister zu Hause, er erzählte uns aber, zu den großen Kirmessen
reise er über Land, um seine Romanzen vorzutragen. Der Raum, in dem der
Dichter uns empfing, war vom Fußboden bis zur Decke mit den Titelblättern
seiner Flugschriften tapeziert, und der Dichter erzählte uns voller Stolz,
mit seiner Literatur habe er sich bisher noch immer redlich seinen Unterhalt
verdienen können. Ein Blick auf die Einrichtungsgegenstände und das ärmliche
Stadtviertel zeigte freilich, daß man mit der Volksdichtung keine Reichtümer
verdienen konnte. Cavalcante war der Typ des Autodidakten und sah aus wie
Brechts denkender Arbeiter. Er zeigte dem Besucher einen Querschnitt seiner
unüberschaubar reichhaltigen dichterischen Produktion. Da gab es Romanzen
über legendäre Begebenheiten im Sertão, zum Beispiel »Der Pater, der zum
Buschbanditen wurde«. Andere behandelten religiöse Themen; so gab es da
ein Streitgespräch zwischen einem katholischen Pater, einem evangelischen
Missionar und einem Spiritisten über die beste Art des Gottesdienstes.
Wieder andere schilderten Vorkommnisse aus der Regierungszeit des Präsidenten
Getulio Vargas und anderer brasilianischer Politiker. Cavalcante berichtete
mir auch, die Einwohner des Sertão hätten die Landung des Sputniks auf
dem Mond erst geglaubt, nachdem er sie in Verse gebracht und
auf den Märkten verkündet hatte. - Georg Rudolf Lind, Nachwort
zu
(stein)
|
||
|
||