Vierundzwanzigstundengift    Alfinger ließ sich vom Pferd heben, alle Menschen müssen sterben, vom Baum der Erkenntnis habt ihr gegessen, darum sollt ihr verflucht sein. Sie erwarteten, er würde seinen Nachfolger ernennen. Aber er ließ sich unter einen Baum legen, man mußte ein Schattendach machen, dann sog ein dunkler Mann, der sein Dolmetsch war, an der Wunde unter dem Knie. Das Blut floß, das Knie schwoll an und wurde blau. Das Bein wurde schwer, und nach drei Stunden kam der Leutnant Alfingers und sagte: «Wenn Ihr nicht einen Nachfolger ernennt, General, wird ein Kampf unter uns entstehen, und wir werden alle heute nacht erschlagen werden.» Der Gouverneur forderte heißes Wasser, ließ Kräuter hineinwerfen und trank eine große Kanne. Er ließ das Schattendach entfernen, bedeckte seinen Kopf mit Tüchern, setzte sich der Sonne aus. Der Kaplan des Zuges erschien, ermahnte ihn, zeigte das geschwollene Bein, Alfinger nahm die Sterbesakramente. Er hatte noch zwölf Stunden. Da schickte er drei Boten herum, unter den Dunkelhäuten einen heilkundigen Zauberer zu rinden. Von den drei Boten kam einer wieder und sagte, es seien weit und breit keine Leute, die beiden andern seien höher in die Berge gelaufen. Diese beiden wurden von Alfingers Leuten eine Strecke verfolgt und niedergemacht. So wartete er vergeblich eine Stunde auf sie. In den langen Stunden litt Ambrosius Alfinger viele Schmerzen. Er wurde trübe und sprach nicht. Als die beiden Boten nicht kamen und sein Leutnant ihm mitteilte, sie würden sich verlaufen haben oder von den Eingeborenen festgehalten sein, lächelte er wieder. Er begriff. Er konnte sich dann aufsetzen, trank wieder eine Kanne von dem heißen bitteren Tee. Der Kopf war noch frei. Alfinger zupfte seinen langen Bart: «Wir haben das schlecht vorbereitet. Daß sie schon hier Gift kennen, habe ich nicht gewußt. Sonst hätte ich einen richtigen Zauberer mitgenommen, der müßte mir jetzt den Kopf abschneiden und ihn auf einen Pferdchals setzen.» Der Leutnant hatte Mut und scherzte mit: «Ob man Euch dann noch gehorchen würde, mit Pferdefüßen?» «Warum nicht mit Pferdefüßen? Ihr gehorcht doch auch jetzt nicht meinen Füßen, ihr seht nicht auf meine Stiefel.» Er rief den dunkelhäutigen Dolmetsch zu sich heran und fragte, ob er davon gehört habe, bei seinen Leuten oder anderswo, daß man einen vor Gift retten könne, wenn man ihm den Kopf abschnitte und den Kopf geschwind auf einen Pferdehals setzte. Der Dolmetsch blickte den Leutnant an und verstand nicht, Alfinger aber meinte es wirklich. Dann fragte er den Dolmetsch, ob er bereit sei, ihm das Bein mit einem scharfen Degen und einem Beil abzuhacken. Als der Dolmetsch nicht antwortete, fragte Alfinger seinen Leutnant, ob er ihm den Dienst erweisen wolle. Der rief den Kaplan, und der Kaplan redete Alfinger zu, sich nicht an dieses Leben zu klammern. Wer hier sterbe, gehe sicherer in den Himmel ein wie irgendeiner drüben, denn er sterbe als Kämpfer für die heilige Kirche. Darauf atmete Alfinger befriedigt, das denke er auch, meinte aber, er sei der spanischen Krone noch viel schuldig, und blieb dabei, man dürfe einen Kämpfer nicht ohne Zwang sterben lassen, und verlangte wieder von seinem Leutnant, er solle ihm das Bein abhacken. Der Leutnant war begleitet von zwei Soldaten, sie trugen Arkebusen, Alfinger wußte, sie würden ihn erschießen, wenn er nicht bald stürbe. Der Leutnant zeigte geringschätzig auf das vergiftete Bein, das offen lag und bis zur Hüfte grünblau angelaufen war, und sagte, es sei ja zu spät. Das meinte der Kaplan auch, und er fing an, eilig und laut Gebete zu sprechen. Alfinger ernannte nun den Leutnant, um ihn von sich zu entfernen, zu seinem Nachfolger. Darauf zog der Leutnant befriedigt mit seinen Arkebusieren ab, Alfinger lächelte wie immer, ließ sich von seinem Dolmetsch eine Arkebuse neben seinen Platz legen und flüsterte mit ihm. Der Dolmetsch erschien bald wieder an dem Platz, wo der General lag und der Kaplan laut betete, mit einem schmiedekundigen Söldner. Der schleppte einen Tiegel, ein großes langes Stück Eisen und eine Zange. Über dem Tiegel erhitzte er das Eisen, bis es rot glühte. Dann gab er Alfinger die Zange. Der Kaplan verfolgte über seinem Buch ängstlich alle Bewegungen, nun hielt er sich das Buch vor die Augen, hörte mit Beten auf und blies die Luft von sich. Auch der Schmied und der Dolmetsch ballten die Fäuste, die Augen traten ihnen aus den Höhlen. Das verbrannte Fleisch zischte und gab Rauch von sich. Alfinger saß gerade auf und brannte sich von der Hüfte bis zum Knie herunter das Fleisch aus. Als er fertig war und die Zange mit dem Eisen neben sich warf, war sein Gesicht starr, und beide glaubten, er sei tot. Aber er drückte den Rumpf gegen den Stamm, fiel nicht um, und seine Augen blinzelten. Nach einer Stunde ließ er sich Tee geben und sah nach der Sonne. Sie war im Sinken. Sein Arm tastete nach der Arkebuse.

Bei Anbruch der Dunkelheit trat der Leutnant mit Fackeln und einer Bahre aus Ästen heran. Aber Alfinger saß aufrecht und blickte vor sich, der Kaplan kauerte auf der einen, der Dolmetsch auf der ändern Seite. Alfinger befahl, daß zwei Söldner bei ihm Feuer machten und die Nacht mit Waffen bei ihm blieben. Der Leutnant gehorchte. In der Nacht ließ sich Alfinger, der wie ein Stein am Baum saß, warmes Öl in seine Wunden gießen. Der Kaplan schlief am Feuer ein, er griff erst morgens nach seinem Buch und blickte erschrocken zu Alfinger, der starr saß, da beeilte er sich wieder zu beten.

In der Frühe waren die vierundzwanzig Stunden des Giftes um. Der Gouverneur ließ sich auf einer Bahre in ein geschlossenes Zelt tragen, kaute Kokablätter, die ihm sein Dolmetsch in der Nacht zugesteckt hatte. Jetzt schlief er darauf. Mittags trat der Leutnant vorsichtig ins Zelt. Am Lager des Kapitäns schlief der Kaplan. Aus dem Halbdunkel nickte Alfinger seinem Leutnant zu, fragte mit der alten leisen Stimme, was vorgefallen sei.   - Alfred Döblin, Amazonas-Trilogie. Bd.1, Land ohne Tod. München 1991

 

Gift Frist

 

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