ieh   Nicht ohne Grund scheint man das Gute und die Glückseligkeit an den Lebensformen abzulesen. Die Mehrzahl der Leute und die rohesten wählen die Lust. Darum schätzen sie auch das Leben des Genusses. Es gibt nämlich vor allem drei hervorstechende Lebensformen, die eben genannte, die politische und die betrachtende.

Die große Menge erweist sich als völlig sklavenartig, da sie das Leben des Viehs vorzieht. Sie kommen aber zu einiger Rechtfertigung, da es vielen unter den Mächtigen ähnlich ergeht, wie Sardanapal. - (eth)

Vieh (2)  »,Ecce homo!' Erlauben Sie, junger Mann: können Sie . . . Aber nein, um es stärker und bildhafter auszudrücken: nicht können Sie, sondern wagen Sie es, wenn Sie mich zu dieser Stunde betrachten, zu behaupten, ich sei kein Schwein

Der junge Mann erwiderte kein Wort.

»Nun ja«, fuhr der Redner fort, nachdem er in aller Ruhe und diesmal sogar mit noch größerer Würde das Kichern, das abermals im Zimmer aufklang, abgewartet hatte, »nun ja, ich bin vielleicht ein Schwein, und sie ist eine Dame! Ich bin das Ebenbild eines Viehs, aber Katerina Iwanowna, meine Gemahlin, ist eine gebildete Person, die Tochter eines Stabsoffiziers. Mag ich auch ein Schurke sein, mag ich es sein, sie aber ist hohen Herzens und dank ihrer Erziehung voll edler Gefühle. Indessen ... oh, wenn sie nur Mitleid mit mir hätte! Sehr geehrter Herr, sehr geehrter Herr, es ist doch notwendig, daß jeder Mensch wenigstens einen einzigen Ort habe, wo man mit ihm Mitleid hat! Und Katerina Iwanowna ist zwar eine großmütige Dame, aber ungerecht.. . Und obgleich ich selber einsehe, daß sie, wenn sie mich am Haar zieht, das nur aus dem Mitleid ihres Herzens tut - denn ich wiederhole ohne Verlegenheit, junger Mann, sie zieht mich am Haar«, bekräftigte er mit verdoppelter Würde, als er wieder lachen hörte -, »aber mein Gott, wenn sie nur ein einziges Mal ... doch nein! Nein! All das ist vergeblich, und es nützt kein Reden! Es nützt kein Reden! ... Denn schon öfter war es so, wie ich mir wünschte, und mehr als einmal hatte man Mitleid mit mir .. . aber . .. aber so ist nun einmal mein Charakter, und ich bin von Geburt an ein Vieh!«

»Das will ich meinen«, bestätigte gähnend der Wirt.

Marmeladow schlug mit der Faust energisch auf den Tisch.

»So ist nun einmal mein Charakter! Wissen Sie, mein Herr, wissen Sie, daß ich sogar ihre Strümpfe vertrunken habe? Nicht etwa die Schuhe, Herr, denn das entspräche wenigstens irgendwie dem Lauf der Welt; nein, ihre Strümpfe, ihre Strümpfe habe ich vertrunken!«  - Fjodor M. Dostojewskij, Schuld und Sühne. München 1987

Vieh (3)  Vor mir erkannte ich einen golden schimmernden, pockennarbigen, mit einer Lederhaut überzogenen Leib, der mir wie ein Drache oder Wal oder ähnliches vorkam, für den mir aber der genaue Vergleich abgeht. Das Vieh, auf das ich direkt hinunterfiel, war groß wie der Mond. Mir wurde beim Abstürzen schlecht, und das Wasser strömte unaufhörlich auf mich zu.

Ich kann mich dunkel entsinnen, wie ich in das Vieh eingedrungen bin. Ich spürte, wie sich seine Haut schmatzend über mir schloß. Ich war in einem Schlund, der mit großen Borsten besetzt war. Etwas, das mir wie eine Zunge schien, kam, purpurn und rot, in Wellenbewegungen auf mich zu. Ich erstickte, als ich durch einen schwarzen Tunnel gefallen war, in einem ätzenden, klebrigen Saft. Ich glaube, ich habe mich aufgelöst.  - Gerd Maximoviç, Das gestrandete Schiff. In: Phantastische Aussichten. Hg. Franz Rottensteiner. Frankfurt am Main 1985  (Phantastische Bibliothek 160)

 

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