Verwunderung  Nicht alle Staunenden sind professionelle Dichter oder Philosophen. Fast immer sind sie es zuerst oder wollen es sein, doch es kommt der Tag, da ihnen bewußt wird, daß sie nicht können oder daß sie sich nicht genötigt sehen zu dieser fast zwangsläufigen response, die das Gedicht oder die Philosophie angesichts des challenge der Verwunderung darstellen. Ihre Haltung wird defensiv, egoistisch, wenn man so will, da es sich darum handelt, vor allem die Klarsicht zu bewahren, der hinterhältigen Deformierung sich zu widersetzen, welche die kodifizierte Alltäglichkeit mit aktiver Beteiligung des räsonierenden Verstandes im Bewußtsein anrichtet, die Informationsmedien, der Hedonismus, die Arteriosklerose und die Ehe, inter alia.

Die Humoristen, manche Anarchisten, nicht wenige Verbrecher und viele Erzähler und Romanciers sind auf diesem schwer zu definierenden Gebiet ansässig, in dem die Veranlagung des Verwunderten nicht zwangsläufig eine Antwort dichterischer Art zur Folge hat. Diese nicht-professionellen Dichter nehmen ihr Deplacement mit größerer Natürlichkeit und weniger Glanz auf sich, und man könnte sogar sagen, daß ihre Auffassung der Verwunderung im Vergleich zur lyrischen oder tragischen Antwort des Dichters ludisch ist. Während dieser immer einen Kampf liefert, verschmelzen die schlicht Staunenden mit der Exzentrizität bis zu einem Punkt, wo das Außergewöhnliche dieser Veranlagung, die beim Dichter oder beim Philosophen das challenge bewirkt, dahingeht, die natürliche Veranlagung des staunenden Subjekts zu werden, das es so gewollt hat und sein Verhalten deshalb diesem allmählichen Einverständnis angepaßt hat. Ich denke an Jarry, an einen langsamen Umgang aufgrund von Humor, Ironie, Vertrautheit, wodurch die Waagschale sich am Ende auf die Seite der Ausnahmen neigt, den skandalösen Unterschied zwischen dem Gewöhnlichen und dem Ungewöhnlichen aufhebt und den täglichen Übergang-ohne konkrete response, weil es kein challenge mehr gibt- auf eine Ebene erlaubt, die wir mangels eines besseren Namens weiterhin Wirklichkeit nennen, doch ohne daß sie jetzt ein flatus vocis oder ein Notbehelf ist. - (cort)

Verwunderung (2)  Unter den Derwischen  gibt es auch einige Hairetis oder Verwunderte (von diesem Wort leitet sich vielleicht die Bezeichnung Häretiker ab), die den Geist der Skepsis und der Gleichgültigkeit verkörpern. Sie sind regelrechte Epikureer. Bei ihnen gilt der Grundsatz, daß die Lüge sich nicht von der Wahrheit unterscheiden läßt und es unklug ist, in den Spitzfindigkeiten der menschlichen Bosheit irgendeinen Sinn erkennen zu wollen. Leidenschaft kann einen täuschen, verbittern, ungerecht im Guten wie im Bösen machen; daher soll man gelassen bleiben und sich sagen: »Allah bilur... bise haranuk!« (Gott weiß es, und wir wissen es nicht.)   - Gérard de Nerval, Reise in den Orient. München 1986 (zuerst 1851)
 
 

Staunen

 

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