erwundung    An der Wand lag eine Frau, alle viere von sich streckend und ganz mit Blut bedeckt. Mitten im Gesicht hatte sie ein Kreuz, das man ihr mit zwei Messerschnitten beigebracht haben mußte.

Vor der Verwundeten (der einige der Besseren von der Bande die erste Hilfe zu leisten suchten) stand Carmen, von fünf oder sechs Weibsbildern festgehalten. Die Verwundete schrie: «Ich will beichten! Ich will beichten! Ich liege im Sterben! ...»

Carmen sagte nichts; sie biß die Zähne zusammen und rollte die Augen wie ein Chamäleon.

«Was ist passiert?» fragte ich.

Es war zunächst nicht ganz leicht, zu erfahren, was eigentlich passiert war; denn die ganze gackernde Gesellschaft redete gleichzeitig auf mich ein. Die Verletzte — das bekam ich schließlich heraus — hatte geprahlt, daß sie so viel Geld in der Tasche habe, um sich dafür auf dem Markte von Triana einen Esel kaufen zu können.

«Man sollte denken», hatte Carmen mit ihrer boshaften Zunge erwidert, «zum Reiten müßte dir ein Besenstiel reichlich genügen!»

Die andere, durch solchen Hohn gekränkt (und vielleicht auch, weil sie sich in diesem Punkte nicht unangreifbar fühlte), antwortete: da sie nicht die Ehre habe, Zigeunerin oder des Höllenfürsten Patenkind zu sein, so verstehe sie sich nicht besonders auf Besenstiele; die ehrenwerte Senorita Carmen dagegen werde sehr bald Bekanntschaft mit dem Esel machen, wenn nämlich der Herr Corregidor sie darauf spazierenreiten lasse, quer durch die Stadt, mit zwei Lakaien hinterdrein, um dem Tiere die Fliegen abzuwedeln.

«Halt dein freches Maul!» rief Carmen, « oder ich mal dir 'ne blutige Fliegenschwemme mitten ins Gesicht!»

Und — ritsch, ratsch! — begann sie, mit dem Messer, das ihr zum Abschneiden der Zigarrenenden diente, das Kreuz des heiligen Andreas auf die Wange der Gegnerin zu ritzen. - Prosper Mérimée, Carmen. Zürich ca. 1960 (zuerst 1845)

 Wunde Schmerz Verwundbarkeit Krieg

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