erwandlung (35) Wie ist es, bei McDonald's zu
arbeiten? Achtunddreißig zu sein? Am heutigen Tag in London zu sein?
Wie ist es, den Mount Everest zu besteigen? Ein olympischer Goldmedaillengewinner im Turnen zu sein?
Wie wäre es, ein guter Musiker zu sein? Imstande zu sein, auf dem Manual Fugen zu improvisieren? J.S. Bach zu sein? J.S. Bach zu sein, wie er den letzten Satz des Italienischen Konzerts schreibt?
Wie ist es, wenn man glaubt, die Erde sei eine Scheibe?
Wie ist es, jemand zu sein, der unvorstellbar intelligenter ist als man selbst? Unvorstellbar dümmer?
Wie ist es, wenn man Schokolade (bzw. deinen entsprechenden eigenen Lieblingsgeschmack) verabscheut?
Wie ist es, wenn man seine Muttersprache hört, ohne sie zu verstehen?
Wie ist es, das andere Geschlecht zu haben?
Wie wäre es, sein eigenes Spiegelbild zu sein? (Siehe den Film Journey to the Far Side of the Sun.)
Wie wäre es, Chopins Bruder zu sein (er hatte keinen)? Der derzeitige König von Frankreich?
Wie ist es, eine Person im Traum zu sein? Eine Person im Traum, wenn der Wecker klingelt? Holden Caulfield zu sein? Das Subsystem in J. D. Salingers Gehirn zu sein, das die Figur Holden Caulfield repräsentiert?
Wie ist es, ein Molekül zu sein? Eine Ansammlung von Molekülen? Eine Mikrobe? Eine Stechmücke? Eine Ameise? Eine Ameisenkolonie? Ein Bienenstock? China? Die Vereinigten Staaten? Detroit? General Motors? Ein Konzertpublikum? Eine Basketball-Mannschaft? Ein Ehepaar? Eine Kuh mit zwei Köpfen? Siamesische Zwillinge? Ein Mensch mit zerteiltem Gehirn? Die Hälfte eines Menschen mit zerteiltem Gehirn? Der Kopf eines geköpften Menschen? Der Körper? Das Sehzentrum von Picasso? Das Lustzentrum einer Ratte? Das zuckende Bein eines sezierten Froschs? Ein Bienenauge? Eine Retinazelle in Picassos Auge? Ein DNS-Molekül von Picasso?
Wie ist es, wenn man ein laufendes AI-Programm ist? Ein funktionierendes System in einem Computer? Ein funktionierendes System in dem Augenblick, in dem es "zusammenbricht"?
Wie ist es, wenn man einer allgemeinen Betäubung unterliegt? Auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wird? Ein Zen-Meister ist, der einen satori-artigen Zustand erreicht hat, in dem kein Subjekt ("Ich", Ego, Selbst) mehr existiert?
Wie ist es, ein Kiesel zu sein? Ein Windglockenspiel? Ein menschlicher Körper?
Der Felsen von Gibraltar? Der Andromedanebel? Gott? - Einsicht
ins Ich. Fantasien und Reflexionen über Selbst und Seele. Hg. Douglas
R. Hofstadter und Daniel C. Dennett. München 1992
Verwandlung (36) Als man ihm
einst Vorwürfe machte wegen seiner Falschmünzerei, erwiderte er: »Es war einmal
eine weit zurückliegende Zeit, als ich so war, wie du jetzt bist; wie ich aber
jetzt bin, wirst du niemals sein.« - (
diog
)
Verwandlung (37) Langsam hatte ich begonnen, mich
in eine Krankheit zu verwandeln. Wie alles, was ich hervorbrachte, war auch
diese Verwandlung vollkommen übertrieben, wenn sie schon nicht das Leiden eines
Menschen war, war sie schließlich auch nicht mehr das eines Tieres. Es führte
dazu, daß man mich aus dem Betrieb entließ, die Einzelheiten, die dazu führten,
sind nicht erwähnenswert, ich lebte in Umständen, in denen die Symptome wichtiger
waren als die Gründe, oder vielmehr die Gründe sich andauernd in die Symptome
verwandelten, tagsüber versteckte ich mich in der Wohnung, abends erst, in der
Dunkelheit, ging ich aus, ich ging in den abgestorbenen Straßen der Stadt umher,
in Selbstgesprächen, mir schallende Reden haltend, schwitzend,
mit milchgrünen Blattern bedeckt. Es war etwas Furchtbares geschehen, das Schlimmste,
seitdem ich das Leben von außen zu betrachten vermochte, seitdem ich es vermochte,
das Leben zu benutzen, um Beschreibungen anzufertigen, die mir ein inneres Leben
ermöglichen sollten. Etwas Furchtbares, und ich sollte es eine Schönheit nennen
- wenn mir ähnliches schon gelungen war ... ich hatte es immer bezweifelt ...
so war die Diskrepanz diesmal die tiefste, sie war entsetzlich, nichts an dem
Vorfall ließ sich in eine schöne Idee für mein inneres Leben verwandeln. - Wolfgang
Hilbig, Die Weiber. Frankfurt am Main 1996 (zuerst 1987)
Verwandlung (38)
AUSSICHT AUF WANDLUNG Mein Dasein ist nicht unterkellert; Ach Liebste, könntest du lesen Ich halte der Affen zweie O Herz, o Herz, wen verwunderts, Hunger und Ruhe vergällt mir Der Abend, der rote Indianer, Sei, sei der Nacht willfährig! |
- Peter Rühmkorf, Die Jahre, die ihr kennt. Reinbek bei Hamburg
1972 (dnb 1)
Verwandlung (39) Durch den
Tod wird eine größere Wandlung bewirkt, als wahrnehmbar ist. Während im allgemeinen
die Seele, die entwich, irgendwann zurückkehrt (dabei zeigt sie sich in Gestalt
des einstigen Leibes) und dann manchmal von den noch Lebenden gesehen wird,
ist es schon vorgekommen, daß der wirkliche Körper ohne Seele umherwandernd
angetroffen wurde. Und es wird bezeugt von denen, die ihm begegneten und noch
lebten, um davon berichten zu können, daß eine solchermaßen auferstandene Leiche
keine natürliche Regung oder auch nur eine Erinnerung daran hat, sondern nur
Haß kennt. Es ist auch bekannt, daß einige Seelen, die
zu Lebzeiten ein gütiges Wesen besaßen, nach dem Tode ganz bösartig
werden. - Hali, nach Ambrose Bierce, Die Spottdrossel. Zürich 1978 (detebe
106)
Verwandlung (40) Als Nick Carter dem Bad entstieg, da glich er von den Haarwurzeln bis zu den Zehenspitzen einem dunkelhäutigen Südländer, vielleicht auch einem Mestizen. Doch damit nicht genug, nahm der Detektiv noch einen anderen Farbstoff und bearbeitete damit Gesicht, Hände, Arme, Nacken und Brust.
»Well«, sagte er, »nun bin ich waschecht gefärbt... nur Terpentin vermag die Farbe wegzubeißen... jetzt noch die Haare und das Gesicht.«
Nick Carter setzte sich vor einen hohen Ankleidespiegel und begann mit feinen Nadeln, die er in den Inhalt von Glasphiolen tauchte, an Gesicht und Händen zu operieren. Mit einer kleinen Spritze träufelte er Saft in die Augenlieder - mit dem Erfolg, daß diese stark aufschwollen und an den Rändern entzündet erschienen; ein weiterer Tropfen in die Augen selbst machte das Weiße im Auge rötlich und die Pupillen stumpf und stier, wie man es bei Gewohnheitssäufern beobachten kann. Die edel geformte griechische Nase verwandelte sich in einen wahren Klumpen, die Lippen erschienen hasenschartig; kurzum, aus dem männlich schönen Nick wurde im Handumdrehen eine wahre Vogelscheuche - und als er bald darauf auch in der zerlumpten, schmierigen, nach Schnaps duftenden Kluft eines berufsmäßigen Walzbruders dastand, da sah er so schreiend echt aus, daß empfindsamere Naturen bei seinem Anblick sich sicherlich mit zugehaltener Nase erschauernd abgewendet haben würden.
Aufmerksam betrachtete sich Nick Carter im Spiegel; dann nickte er befriedigt.
»Well, ich denke, ich kann es wagen!« flüsterte er. - Nick Carters
beste Maske. In:
Die großen
Detektiv
e,
Bd. 2. Hg. Werner Berthel, Frankfurt am Main 1980, it 368)
Verwandlung (41) Es schmeichelte
mir, mit einem Wesen in Kontakt zu sein, durch das ich einem Präsidenten der
Vereinigten Staaten gewissermaßen sehr nah stand; wir schlossen also miteinander
einen Pakt, dem nach wir von nun an in den Hauptrollen abwechselten. Er war
der Greisler, der: »Heut ham mer aber an fein Primsenkas!« sagte, ich die Kunde,
die achselzuckend ein Stück davon kostete. Dann war wieder ich das Elefantenbaby
... im Kreis rundherum laufend . . . und er das »Nein! wie lieb!« quietschende
Kind; endlich er der Baumstamm, mit einem Hut auf einem Ast donauabwärts treibend
bis ans Schwarze Meer, ich der über ihn fluchend ins Wasser gefallene Ruderer,
die Wasserratte, die zwischen den Wurzeln haust, oder die das Billett des Baumstamms
auf seine Gültigkeit prüfende Fischotter aus der Wachau. Bis die Unmöglichkeit,
durch eine wenn auch noch so große Willensanstrengung mir selbst und andern
Leuten meine Verwandlung in den Fürsten Echsenklumm oder in die Wasserratte
auch äußerlich wahrnehmbar zu machen, mir die Lust an diesem Spiel verdarb.
»Philipp!« sagt ich, »komm her.« Philipp kam, wenn auch widerstrebend, als schwante
ihm Unheil. Ich schlug ihn sorgfältig in braunes Packpapier ein und ging spazieren.
Aber niemand der Vorübergehenden wollte mich fragen, was in dem kleinen braunen
Paket enthalten sei. Und ich hatte doch schon eine kleine Rede vorbereitet:
»Meine Damen und Herren! Hier sehn Sie durchaus nichts Gewöhnliches! Ein sprechender
Stiefelzieher! Er stammt ab von dem Stiefelknecht Seiner asiatischen Majestät,
des Königs Mithridates von Pontus ... demnächst wird er dem Ersten Internationalen
Stiefelzieherkongreß präsidieren. « - Albert Ehrenstein, Tubutsch,
nach A.E.: Gedichte
und Prosa. Neuwied u.a. 1961
Verwandlung (42) Man führte mich durch einen geheimen Gang in ein Zimmer, das einem kleinen Operationssaal ähnelte. Dort nahmen mich vier Mann in Empfang. Als man mich nach einer Stunde vor einen Spiegel stellte, konnte ich mich selbst nicht mehr erkennen. In Bleche geschmiedet, mit viereckigen Schultern und einem ebensolchen Kopf, mit gläsernen Augenschlitzen statt der Augen sah ich wie der gewöhnlichste Roboter von der Welt aus.
»Herr Tichy«, sagte der Chef der Tarnungsabteilung zu mir, »Sie dürfen mehrere wichtige Dinge nicht vergessen. Erstens, Sie dürfen nicht atmen.«
»Sie sind wohl nicht bei Trost«, erwiderte ich. »Wie kann ich das? Ich ersticke doch!«
»Ein Mißverständnis. Natürlich, atmen Sie nur, aber leise. Kein Seufzer, kein Schnaufen, kein tieferes Einatmen - alles geräuschlos, und um Himmels willen nur kein Niesen. Das wäre Ihr Ende.«
»In Ordnung. Was noch?« fragte ich.
»Sie bekommen auf die Reise einen Stapel Jahrgänge des Elektronenkuriers und der Oppositionszeitung Stimme des Alls mit.«
»Die haben also auch eine Opposition?«
»Ja, aber an ihrer Spitze steht ebenfalls der Kalkulator. Professor Mlassgrack nimmt an, daß er außer an elektrischer auch noch an politischer Bewußtseinsspaltung leidet. Hören Sie weiter. Kein Essen, kein Bonbonbeißen - nichts dergleichen. Essen werden Sie ausschließlich nachts, durch diese Öffnung hier; wenn Sie den Schlüssel hineinstecken - das ist ein Sicherheitsschloß -, öffnet sich die Klappe, so, sehen Sie? Verlieren Sie nur nicht den Schlüssel, sonst droht Ihnen der Hungertod.«
»Richtig, Roboter essen ja nicht.«
»Nähere Einzelheiten ihrer Sitten und Gebräuche sind uns aus verständlichen
Gründen nicht bekannt. Studieren Sie die kleinen Anzeigen ihrer Zeitungen, das
ist im allgemeinen sehr nützlich. Und wenn Sie sich mit jemandem unterhalten,
dann stellen Sie sich bitte nicht zu dicht vor Ihren Gesprächspartner, damit
er nicht durch das Mikrophonsieb hineinschauen kann. Am besten, Sie schwärzen
sich ständig die Zähne, hier haben Sie eine Schachtel Henna. Und vergessen Sie
nicht, sich jeden Morgen ostentativ alle Scharniere zu ölen, wie das alle Roboter
tun. Allerdings dürfen Sie nicht übertreiben, wenn Sie etwas quietschen,
wird das nur einen guten Eindruck machen.« - (
lem
)
Verwandlung (43) Man erzählte
sich nämlich, daß sie als Mädchen eine Mora gewesen, als sie geheiratet habe,
eine Hexe geworden sei und daß sie nach ihrem Tode drei
Jahre lang ein Vampir bleiben würde, doch an dieses
dritte glaubten nicht alle, denn man war der Meinung, daß meistens Türken
zu Vampiren würden, seltener Griechen, Juden aber überhaupt
nicht. - (
pav
)
Verwandlung (44) kleopatra
schlug die hand vor den mund und rief: woher kommen sie, mein herr? in der tat
war das aussehen des augustus von der art, dass man überrascht sein konnte,
die stirn des hannibal war feucht von schweiss und mit dem schweiss des beowulf
vermengten sich hier und da einige tropfen blutes. in seiner kleidung war diese
unordnung umso auffallender, als byron in dieser hinsicht gewöhnlich die strengsten
anforderungen der mode erfüllte, das feine tuch des schwarzen rockes war an
mehreren stellen zerrissen, die verschobene krawatte des grafen latour hielt
nur durch einen falschen knoten und ein gummiband zusammen, das gegen jeden
modestil war. grosse kotflecken hatten den glanz seiner atiefel bedeckt und
die spitzen seines zerknitterten und an mehreren stellen zerrissenen Jabots
hingen schmutzverkrustet über den geplatzten kragen der atlasweste des feldmarschall
tilly. auch der dunkle hut, den lincoln bei seinem eintritt auf einen sessel
gelegt hatte, war verbeult und die krempe zum teil abgerissen, kurz, der zar
schien in einem erbarmungswürdigen zustand, und miss mary lincoln erstarrte,
als sie die verwundete haut seiner finger durch das leder der engen, zerrissenen
handschuhe floyd pattersons bemerkte, die frage seiner königin riss sir francis
drake aus gedanken. während er mühsam versuchte, sich wieder zurechtzufinden,
stand brummel auf und trat vor den spiegel. Verzeihung, madame, stammelte cromwell,
seine geschundene haut betrachtend, auf meine ehre, ich glaubte, ich wäre nicht
so sehr zugerichtet worden, verdutzt stand oliver hardy vor gloria swanson,
die sich in einem hysterischen lachkrampf am boden krümmte, solcherart verhöhnt
wandte ihr löwenherz den rücken, hochaufgerichtet verliess kolumbus den raum.
- Konrad Bayer, Mutationen, aus: K.B., Das Gesamtwerk. Hg. Gerhard
Rühm. Reinbek bei Hamburg 1977
Verwandlung (45) »Was ist das Leben schon anderes, wenn man einmal darüber nachdenkt, als eine höchst vorzügliche, genau eingestellte und unendlich umständliche Maschine, um aus dicken, übermütigen kleinen Hundchen alte räudige und blinde Köter zu machen, aus stolzen Schlachtrossen ausgemergelte Schindmähren und aus strotzenden Burschen, denen die Welt eine einzige Schatzkammer von herrlichen und schaurigen Abenteuern ist, als Zittergreise mit Triefaugen, die gemahlenes Rhinozeroshorn einnehmen?«
»Und,«, sprach der Nasenlose, »was ist der Mensch
anderes, wenn man einmal über ihn nachdenkt, als eine scharfsinnig entworfene
Maschine, um mit unendlicher Pfiffigkeit den roten Wein
von Schiras in Harn zu verwandeln? Man kann mit gutem
Grunde fragen, welches das dringendere Verlangen und Vergnügen sei: zu trinken
oder Wasser zu lassen? Dazwischen aber, was ist dazwischen geschehen? Du hast
ein Lied geschrieben und einen Kuß geraubt, du hast einen Ehrabschneider erschlagen
und einen Propheten gezeugt, ein gutes Urteil gesprochen und einen Witz gemacht.
Die Welt hat Mira Jama, den jungen Geschichtenerzähler, in sich hineingetrunken.
Er ist ihr zu Kopfe gestiegen, er ist durch ihre Adern geflossen, er hat ihr
heiß gemacht und ihr die Farbe ins Gesicht getrieben. Inzwischen bin ich etwas
weiter nach unten gesickert, und man merkt nicht mehr viel von mir. Bald wird
es der Welt das größte Vergnügen sein, mich wieder auszupissen, und ich selber
habe ein Gefühl, als drängte ich selbst ein wenig dazu. Aber die Geschichten,
die ich gemacht habe - die werden bleiben.« - (
blix
)
Verwandlung (46) Da der Mensch keine unabhängige Substanz ist, sondern mit allen Elementen der Natur in Verbindung stehet, er lebt vom Hauch der Luft wie von den verschiedensten Kindern der Erde, den Speisen und Getränken; er verarbeitet Feuer, wie er das Licht einsaugt und die Luft verpestet; wachend und schlafend, in Ruhe und in Bewegung, trägt er zur Veränderung des Universum bei, und sollte er von demselben nicht verändert werden? Es ist viel zu wenig, wenn man ihn dem saugenden Schwamm, dem glimmenden Zunder vergleicht; eine zahllose Harmonie, ein lebendiges Selbst ist er, auf welches die Harmonie aller ihn umgebenden Kräfte wirket.
Der ganze Lebenslauf eines Menschen ist Verwandlung; alle seine Lebensalter
sind Fabeln derselben, und so ist das ganze Geschlecht in einer fortgehenden
Metamorphose. Blüten fallen ab und welken; andre sprießen hervor und knospen:
der ungeheure Baum trägt auf einmal alle Jahreszeiten auf seinem Haupte. Hat
sich nun, nach dem Kalkül der Ausdünstung allein, ein achtzigjähriger Mann wenigstens
vierundzwanzigmal am ganzen Körper erneuet: wer mag den Wechsel der Materie
und ihrer Formen durch das ganze Menschenreich auf der Erde in allen Ursachen
der Veränderung verfolgen? -
Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit
Verwandlung (47) Christus bemitleidend und beweinend fing sie an, darüber nachzudenken,
wo das Praeputium sei. Und siehe da! Bald fühlte sie
auf der Zunge ein kleines Häutchen, gleich dem Häutchen eines Eies, voll übergroßer
Süßigkeit, und sie schluckte es hinunter ... Und so machte sie es wohl
hundertmal ... So groß war die Süßigkeit beim Herunterschlucken
dieses Häutchens, daß sie in allen Gliedern und in allen Muskeln der Glieder
eine süße Umwandlung fühlte. - Benediktiner-Pater Pez über Agnes Blannbekin
(Wien, 1731), nach (
erot
)
Verwandlung (48) «Es ist ein Gesetz
des Himmels, daß da, wo die lichte und männliche Urkraft waltet, auch die dunkle
und weibliche zutage tritt. Wenn man nicht so ängstlich darauf bedacht ist,
diese dunklen Kräfte zu verjagen, da werden sie sich auch nicht zu solchen ärgerlichen
Störungen steigern.» Kaum hatte er das ausgesprochen, da erschien das Gespenst
und bedankte sich für diese Worte. Liu sah, daß es von wildem und furchteinflößendem
Aussehen war, doch bat er es, sein Äußeres zu wechseln. Sofort zog der Geist
sich in ein dunkles Zimmer zurück, und als er nach einer kurzen Weile wieder
herauskam, da war er ein junges Mädchen von berückender Schönheit ge-worden.Mit
wolkengleicher Haarfrisur, aufs schönste geschmückt, kam sie mit zierlichen
und graziösen Bewegungen herzu, gekleidet in seltenste Stoffe, ohne daß eine
Naht oder ein Saum sichtbar war. Ein betäubend lieblicher Duft verbreitete sich,
so daß man es kaum beschreiben konnte. Sie war, wie sie sagte, Fräulein
Lin, die vierte ihrer Sippe - und hatte auch zwei Bediente bei sich. Beide waren
nur körperlose Schatten, doch das Fräulein selbst
war in nichts von gewöhnlichen Menschen verschieden. - Aus:
Die Goldene Truhe. Chinesische Novellen aus zwei Jahrtausenden. München 1961
Verwandlung (49) Wenn der Schöpfer
mich nun auflöst und meinen linken Arm verwandelt in einen Hahn, so werde ich
zur Nacht die Stunden rufen; wenn er mich auflöst und verwandelt meinen rechten
Arm in eine Armbrust, so werde ich Eulen zum Braten herunterschießen; wenn er
mich auflöst und verwandelt meine Hüften in einen Wagen und meinen Geist in
ein Pferd, so werde ich ihn besteigen und bedarf keines anderen Gefährtes. -
Dschuang
Dsï
Verwandlung (japanische) Eine große Anzahl Yokai waren ursprünglich Menschen, die durch extreme Emotionen eine übernatürliche Verwandlung in etwas Schreckliches oder Groteskes erfuhren. Beispiele dafür sind:
* Futakuchi Onna (zweimündige Frau): Eine Frau, der
ein Extra-Mund aus der Rückseite des Kopfes wächst, der durch ihre Haarsträhnen
gefüttert wird, die als eine Art Tentakel funktionieren. Diese Verwandlung wurde
verursacht durch die Angst der Frau um ihre Figur.
*
Rokuro Kubi: Menschen, die ihre Hälse in der Nacht
verlängern können.
*
Ohaguro Bettari: Figuren, für gewöhnlich Frauen, die beim Umdrehen ein Gesicht
mit ausschließlich einem geschwärztem Mund enthüllen.
*
Dorotabou: Die wiederauferstandene Leiche eines Bauern, der sein geschundenes
Land heimsucht.
* Yuki Onna: Eine Schneefrau,
die Menschen einfriert.
* Yamauba: Eine Berghexe,
die verirrte Wanderer auffrisst.
-
Wikipedia
Verwandlung (51) Ein Einwohner von Gérouville in der Nähe von Arlon besaß einen prachtvollen Papagei, seine einzige Leidenschaft. Eine unglückliche Jugendliebe hatte ihn der Misanthropie zugetrieben; er lebte ganz allein mit dem Vogel, dem er den Namen seiner Geliebten beigebracht hatte und der ihn jeden Tag hundertmal wiederholte; das war seine einzige Begabung, die in den Augen von Henri K... aber alle anderen aufwog. Jedesmal, wenn der liebwerte Name von jener fremdartigen Stimme ausgesprochen wurde, verspürte Henri einen Schauder, es war gleichsam eine Stimme von jenseits des Grabes, geheimnisvoll und übermenschlich. Nach und nach, in dem Maße, wie seine Phantasie durch die Einsamkeit entflammt wurde, gewann der Papagei* für Henri K... einzigartige Bedeutung. Er war für ihn gleichsam eine Art heiliger Vogel, den er nur mit Respekt berührte und vor dem er ganze Stunden lang in tiefster Kontemplation verharrte. Dann krächzte der Papagei, ihn starren Blicks anglotzend, das kabbalistische Wort und an Henris innerem Auge zog das verflossene Glück vorbei. Dieses seltsame Leben dauerte mehrere Jahre. Eines Tages aber sah man Henri düsterer als gewöhnlich; er war merklich abgemagert, und aus seinen Augen wetterleuchteten wilde Blitze: Der Papagei war tot.
Henri K... blieb allein, mutterseelenallein, ohne jede Beziehung zur Außenwelt. Er konzentrierte sich mehr und mehr auf sich selbst; manchmal verließ er tagelang nicht sein Zimmer, verschlang zwar die Nahrungsmittel, die man ihm brachte, schenkte aber niemandem Aufmerksamkeit. Nach und nach begann er zu glauben, dass er selbst sich in einen Papagei verwandelt habe; er stieß den geliebten Laut aus, wobei er den Schrei des Verstorbenen zu imitieren versuchte; er begann das Gebaren des Vogels nachzuahmen und auf Stangen zu springen; er breitete die Arme aus, so, als wollte er mit den Flügeln schlagen.
Manchmal hatte er Wutanfälle und zertrümmerte Möbelstücke und seine Familie entschloss sich, ihn ins Irrenhaus von Gheel einzuweisen; während der Überführung entkam er jedoch nachts und morgens fand man ihn, wie er auf einen Baum geklettert war. Große Mühe, ihn wieder herunterzuholen; bis man auf den Einfall kam, einen geräumigen Papageienkäfig am Fuß des Baumes aufzustellen. Bei dessen Anblick steigt der unglückliche Monomane vom Baum herunter, man ergreift ihn und flugs ist er in Gheel.
* [Fußnote von Flaubert:] Das Tier austauschen, einen
Hund an die Stelle des Papageis setzen. - Nach
(
sot
)
Verwandlung (52) Langsam hatte ich begonnen,
mich in eine Krankheit zu verwandeln. Wie alles, was ich hervorbrachte, war
auch diese Verwandlung vollkommen übertrieben, wenn sie schon nicht das Leiden
eines Menschen war, war sie schließlich auch nicht mehr das eines Tieres. Es
führte dazu, daß man mich aus dem Betrieb entließ, die Einzelheiten, die dazu
führten, sind nicht erwähnenswert, ich lebte in Umständen, in denen die Symptome
wichtiger waren als die Gründe, oder vielmehr die Gründe sich andauernd in die
Symptome verwandelten, tagsüber versteckte ich mich in der Wohnung, abends erst,
in der Dunkelheit, ging ich aus, ich ging in den abgestorbenen Straßen der Stadt
umher, in Selbstgesprächen, mir schallende Reden haltend, schwitzend, mit milchgrünen
Blattern bedeckt. - (
hilb2
)
Verwandlung (53)
Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert, Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte; Wer sich als Quelle ergießt, den erkennt die Erkennung; Jeder glückliche Raum ist Kind oder Enkel von Trennung, |
- Rilke, Sonette an Orpheus
Verwandlung (54) Mein Gesicht war an das Glas des Aquariums gepreßt, meine Augen versuchten einmal mehr das Geheimnis jener Goldaugen ohne Iris und Pupille zu durchdringen. Sehr nah sah ich das Gesicht eines Axolotls unbeweglich an der Scheibe. Ohne Übergang, ohne Überraschung sah ich mein Gesicht gegen das Glas gepreßt, anstelle des Axolotls sah ich mein Gesicht gegen das Glas gepreßt, sah es außerhalb des Aquariums, sah es von der anderen Seite des Glases. Dann entfernte sich mein Gesicht, und ich begriff.
Nur etwas war sonderbar: weiterhin zu denken wie zuvor, zu wissen. Als ich mir dessen bewußt wurde, fühlte ich im ersten Augenblick so etwas wie das Grauen des lebendig Begrabenen, dem sein Schicksal aufgeht. Von außen näherte sich mein Gesicht wieder dem Glase, ich sah meinen Mund, die Lippen, verkniffen von der Anstrengung, die Axolotl zu begreifen. Ich war ein Axolotl und wußte jetzt sofort, daß ein Begreifen nicht möglich war.
Er befand sich außerhalb des Aquariums, sein Denken war das Denken außerhalb
des Aquariums. Obwohl ich ihn kannte, er selbst war, war ich ein Axolotl und
befand mich in meiner Welt. Der Schrecken kam daher - das wußte ich im gleichen
Augenblick -, daß ich mich in dem Körper eines Axolotl gefangen glaubte, in
ihn mit meinem Denken als Mensch übersiedelt, lebendig begraben in einem Axolotl,
dazu verurteilt, mich unter empfindungslosen Geschöpfen hell bewußt zu bewegen.
- Julio
Cortázar, Axolotl. In: J. C., Die Nacht auf dem Rücken. Die Erzählungen Bd. 1. Frankfurt am Main
1998
Verwandlung (55)
Verwandlung (56) Der Ernährungsprozeß
ist hier die Hauptsache; das Organische ist mit der unorganischen Natur
gespannt, negiert sie und setzt sie mit sich identisch. In diesem unmittelbaren
Verhältnis des Organischen zum Unorganischen ist das Organische gleichsam
das unmittelbare Schmelzen des Unorganischen zur organischen Flüssigkeit.
Der Grund aller Beziehung beider aufeinander ist eben diese absolute Einheit
der Substanz, wodurch das Unorganische für das Organische schlechthin durchsichtig,
ideell und ungegenständlich ist. Der Ernährungsprozeß ist nur diese Verwandlung
der unorganischen Natur in eine Leiblichkeit, die dem Subjekte angehört,
nur daß er dann auch als ein durch viele Momente hindurchgehender Prozeß
erscheint, der nicht mehr unmittelbare Verwandlung ist, sondern Mittel
zu gebrauchen scheint. Diese Macht der Animalität ist das substantielle
Verhältnis, die Hauptsache in der Verdauung. Ist der tierische Organismus
daher die Substanz, so ist das Unorganische nur Akzidenz, dessen Eigentümlichkeit
nur eine Form ist, die es unmittelbar aufgibt. Die Tiere und Pflanzen,
die das Tier verzehrt, sind zwar schon Organisierte, aber für dieses Tier
sind sie relativ sein Unorganisches. Das Besondere, Äußerliche hat kein
Bestehen für sich, sondern ist ein Nichtiges, sobald es vom Lebendigen
berührt wird, und diese Verwandlung ist nur die Offenbarung dieses Verhältnisses.
- Hegel, nach (lte)
Verwandlung (57)
Verwandlung (58) Watt vermutete,
daß Mr. Knott in der Tiefe der Nacht, wenn die Gefahr, gestört zu werden, minimal
war, sein Äußeres für den kommenden Tag
neu gestaltete. Und diese Vermutung in Watts Herzen wurde in hohem Maße durch
die Tatsache verstärkt, daß, wenn er manchmal in den stillen Stunden zwischen
Mitternacht und frühem Morgen, weil er nicht schlafen konnte oder wollte, aufstand
und zum Fenster ging, um die Sterne zu betrachten, deren Namen ihm einst vertraut
gewesen waren, als er in London herumstarb, und um die Nachtluft einzuatmen
und den Nachtgeräuschen zu lauschen, die Ihn immer noch sehr berauschten, sah
er manchmal zwischen sich und dem Boden ein die Dunkelheit erleuchtendes, die
Blätter graufärbendes und, bei nassem Wetter, den Regen zum Glitzern bringendes
Strahlenbündel weißen Lichts. -
(wat)
Verwandlung (59) Es gibt eine zweifache Verwandlung: eine substanzielle und eine akzidenzielle; und zwar ist die akzidenzielle wiederum zweifach: weil sie sich kundgibt durch eine natürliche und der erscheinenden Sache anhaftende oder eine der erscheinenden Sache nicht anhaftende Form, die dann vielmehr den Organen und Kräften des Sehenden selbst anhaftet. Von den ersteren redet der Kanon, und zwar besonders von der gestaltlichen oder washeitlichen*) Verwandlung, wie z. B. eine Substanz in eine andere sich verwandelt, was allein Gott bewirken kann, der solcher Washeiten Schöpfer ist. - Er redet auch von der zweiten Art, die der Dämon wohl bewirken mag, in so fern durch mit Zulassung Gottes geschickte Krankheiten dem Körper eine akzidenzielle Form verliehen wird, z. B. daß das Gesicht aussätzig erscheint und ähnliches.
Aber weil wir davon nicht eigentlich reden, sondern von der gauklerischen Erscheinung, nach welcher sich die Dinge in andere Bildnisse zu verwandeln scheinen, so sagen wir, daß der angeführte Kanon solche Verwandlungen nicht ausschließen kann, weil sie durch Autorität, Gründe und Erfahrung zugleich festgestellt sind, nach dem, was Augustinus auf Grund sicherer Erfahrung berichtet, wobei er das auch durch verschiedene Untersuchungen erklärt. Denn unter anderen gauklerischen Verwandlungen führt er auch an, daß die hochberüchtigte Zauberin Kirke die Gefährten des Odysseus in Tiere verwandelt habe, und daß einige Stallmägde seine eignen Gastfreunde in Lasttiere verhext hätten. Er berichtet auch, die Gefährten des Diomedes seien in Vögel verwandelt worden und noch lange Zeit nachher seien sie um den Tempel des Diomedes geflogen: ferner habe Prästantius wahrheitsgetreu von seinem Vater erzählt, dieser habe selbst berichtet, er sei ein Pferd gewesen und habe mit anderen Tieren Getreide getragen.
*) Ich versuche das schöne Wort quidditativa des Textes ebenso schön wiederzugeben! (A. d. Ü.)
-
Jakob Sprenger, Heinrich Institoris: Der Hexenhammer. München 1985 (dtv klassik,
zuerst 1487)
Verwandlung (60) Die Witwe
Teresa Manno, geborene Spanò, hatte alle Fotografien mit dem Bild des Apothekers
hervorgeholt, um jene auszusuchen, die, auf Email reproduziert, sein Grab
schmücken sollte. Aber bei jeder sah sie in dem schönen, friedlichen Gesicht
ihres Mannes ein kaum wahrnehmbares Grinsen über die
Lippen huschen, und in seinen Augen zuckte ein kaltes, spöttisches Licht. So
vollzog sich die Verwandlung des Apothekers selbst unter dem Dach, unter dem
er fünfzehn Jahre lang als treuer Ehemann und vorbildlicher Vater gelebt hatte.
Der Verdacht quälte die Witwe sogar im Schlaf.
Spiegel blinkten auf, in denen der Apotheker nackt wie ein Wurm und mit klapprigen
Gliedern als Hampelmann erschien. Und wenn die Witwe
dann aus dem Schlaf schrak und aufstand, um von neuem die Bilder ihres Mannes
zu befragen, dann kam es ihr manchmal vor, als antwortete er ihr aus dem Jenseits,
in dem er sich aufhielt, alles sei Humbug und unwichtig, und manchmal, häufiger,
aus einem zynischen, zügellosen Leben, das er noch immer führte. -
Leonardo Sciascia, Tote auf Bestellung. Zürich 1991
Verwandlung (61) Sie
forschte in ihm nach verwandelnden Salben, und Frenel
zeigte ihr an einer Raupe, die zufällig auf einem Granatbaume
kroch, daß er einen Balsam führe, der ihre Verwandlung in einen Schmetterling
in fünf Minuten vollendete, das Verpuppen dauerte kaum eine Minute, die Puppe
blieb während der übrigen Zeit in einer leuchtenden Bewegung, bis der bunte
Schmetterling zuletzt mit Jubel
herausflog, sich auf den Kopf der Melück setzte und mit den Flügeln so herrlich
farbig umschwenkte, als ob er aus Juwelen zusammengesetzt gewesen. Aber im Augenblicke
ergriff ihn ein eifersüchtiger Kanarienvogel der Melück, welcher in ihrem Busen
ruhte und das kleine Wunder war vernichtet. - Achim von Arnim, Melück Maria Blainville
Verwandlung (62) Das Gesicht des Mädchens war von einem ungesunden Rot überzogen. »Ich weiß, daß da draußen etwas passiert ist. Du hast sie gefüttert, nicht wahr?« Sie kam auf ihn zu. »Du versuchst, Silvia zurückzuholen!«
»Das stimmt«, sagte Rick.
Betty Lou kicherte nervös. »Aber das kannst du nicht. Sie ist tot - ihr Körper ist verbrannt worden - ich habe es gesehen.« In ihrem Gesicht arbeitete es aufgeregt. »Daddy hat immer gesagt, daß ihr was Schlimmes passieren würde, und so ist es gekommen.« Sie lehnte sich eng an Rick. »Sie war eine Hexe! Sie hat das bekommen, was sie verdient hat!«
»Sie kommt zurück«, sagte Rick.
»Nein!« Panik zeichnete sich in den groben Gesichtszügen des Mädchens ab. »Sie kann nicht zurückkommen. Sie ist tot - wie sie immer gesagt hat - Wurm zum Schmetterling - sie ist ein Schmetterling!«
»Geh rein«, sagte Rick.
»Du kannst mich nicht rumkommandieren«, antwortete Betty Lou. Ihre Stimme hob sich hysterisch an. »Das ist mein Haus. Wir wollen dich nicht mehr hier haben. Daddy wird es dir sagen. Er will dich nicht, und ich will dich nicht, und nieine Mutter und meine Schwester .. .«
Die Veränderung kam ohne Vorwarnung. Wie ein Film, der plötzlich angehalten wurde, erstarrte Betty Lou, den Mund halb geöffnet, einen Arm erhoben, die Worte stumm auf der Zunge. Sie schwebte, ein unvermittelt lebloses Ding, in der Luft, als ob sie zwischen zwei Glasscheiben gefangen wäre. Ein leeres Insekt, ohne Sprache und Stimme, unbeweglich und hohl. Nicht tot, aber jäh wieder auf ursprüngliche Unbelebtheit reduziert.
In die gefangene Hülle drang neue Kraft und neues Sein. Etwas kam über sie, ein Regenbogen des Lebens, der sich stürmisch in sie ergoß - wie heiße Flüssigkeit - in jeden Teil ihres Körpers. Das Mädchen taumelte und stöhnte; ihr Körper zuckte heftig und schlug gegen die Wand. Eine Porzellantasse fiel von einem Regalbrett und zerbarst am Boden. Das Mädchen ging wie betäubt rückwärts, eine Hand auf dem Mund, die Augen vor Schmerz und Schock aufgerissen.
»Oh!« keuchte sie. »Ich habe mich geschnitten.« Sie schüttelte den Kopf und starrte stumm zu ihm auf, flehentlich. »An einem Nagel oder so.«
»Silvia!« Er packte sie und zog sie hoch, fort von der Wand. Es war ihr Arm, den er umfaßte, warm und rund. Verwunderte graue Augen, braunes Haar, bebende Brust - sie war jetzt so, wie sie in jenen letzten Momenten unten im Keller gewesen war.
»Laß mal sehen«, sagte er. Er zog ihr die Hand vom Mund weg und untersuchte zitternd die Finger. Da war kein Schnitt, nur eine dünne weiße Linie, die rasch verblaßte.
»Es ist alles gut, Schatz. Du hast nichts. Mit dir ist alles in Ordnung!«
»Rick, ich war dort.« Ihre Stimme war heiser und schwach. »Sie sind
gekommen und haben mich mit dorthin geschleppt.« Sie schauderte heftig. »Rick,
bin ich wirklich zurück?« -
Philip K. Dick, Und Friede auf Erden. In: P. K. D., Foster, du bist tot. Zürich 2001
(zuerst 1954)
Verwandlung (63)
- N. N.
Verwandlung (64) Um ein Beispiel anzuführen, mit welcher Wucht eine Erscheinung des Traumes sich Anerkennung erzwingt, muß man sich den Eindruck vergegenwärtigen, den man empfängt, wenn plötzlich ein Gegenstand, den man für tot hielt, sich zu beleben beginnt oder, umgekehrt, wenn ein anscheinend Lebendiges sich als tot erweist. Der dämonische Eindruck eines Wachsfigurenkabinetts, dem sich so leicht niemand entzieht, gehört hierher; ebenso die mannigfaltige Welt, die sich um den Begriff der Maske gruppiert. In Gedichten Baudelaires wandelt die Seele lautlos durch eine zu Metall und schwarzem Marmor erstarrte Natur, während bei Hoffmann die Kristalle und Erze in den Schächten der Bergwerke sich magisch beleben oder umgekehrt hinter den Bewegungen des Lebens sich plötzlich die künstliche Mechanik, das spielende Uhrwerk einer Marionette offenbart. In der Maske betten sich Leben und Tod auf wundersame Weise ineinander ein; so kann man eine Sammlung von Masken, wie sie der Japaner zum Nô-Feste verwendet, nur mit Herzklopfen beobachten, und ich stehe nicht an, die dämonische Welt, die sich hier zum Ausdruck bringt, an Wucht jeder anderen für ebenbürtig zu halten.
Der Augenblick, in dem Leben und Tod die Plätze wechseln, besitzt etwas sehr Erschreckendes, und der Mensch schlägt, wenn er seinen Bann überwunden hat, nicht ohne Grund oft ein Gelächter an. Ich erinnere mich hier eines Verkäufers in einem Warenhause, der plötzlich inmitten einer Gruppe von Modepuppen Leben zu gewinnen schien, ich erinnere mich der ersten Toten im Kriege, die ich für schlafende Soldaten hielt. Das Leben ist reich an solchen Andeutungen; die Erscheinungen der Mimikry, jene Schmetterlinge, die welken Blättern gleichen und plötzlich zwei bunte Augen aufklappen, die Heuschrecken, die sich als dürre Zweige maskieren, während ihre gefährlichen Fangarme weit ausgebreitet sind, geben Zeugnis davon. Selbst Steine, von deren magischen Eigenschaften Albertus Magnus in seinem Buche über die Geheimnisse der Steine spricht, können erschrek-ken; und die weitverbreitete Auffassung des Opals als eines Trägers besonders bösartiger Kräfte erscheint recht einleuchtend, denn kein anderer Stein wacht unter dem Spiele des Lichtes zu einem so katzenhaft beweglichen Leben auf wie er.
Als solchen Augenblick einer stärksten Verwandlung habe ich es auch empfunden,
wenn man im Kriege, vielleicht aus einer Rauchwolke heraustretend, in einer
scheinbar toten Landschaft den Gegner zum Leben erwachen sah. Und ich hatte
das Gefühl, daß eigentlich weniger der Mensch mit seinen feindlichen Absichten
das Schreckliche war als die Überraschung, ihn so plötzlich leibhaftig zu sehen.
Nichts war so geeignet, die mechanisch taktische Welt des Soldaten mit einem
Schlage in die dämonische des Kriegers zu verwandeln wie dies. Nur so, nur durch
einen plötzlichen Einsturz des Bewußtseins,
kann ich mir auch die furchtbare Angriffslust erklären, die sich selbst von
Grund auf vorsichtiger Naturen bemächtigte. - (ej)
Verwandlung (64) Der Vater begann uns zu meiden. Den ganzen Tag über hielt er sich in Ecken, in Schränken oder unter dem Federbett versteckt. Nicht selten sah ich ihn, wie er gedankenversunken seine Hände betrachtete und die Konsistenz seiner Haut und seiner Fingernägel prüfte, auf denen sich immer wieder schwarze Flecken zeigten, schwarz glänzende Flecken, wie Kakerlakenpanzer.
Tagsüber brachte er noch die Reste seiner Kraft auf und kämpfte, doch in den Nächten brach die Faszination mit aller Macht über ihn herein. Ich sah ihn spätnachts im. Licht einer auf dem Fußboden stehenden Kerze. Mein Vater lag nackt auf der Erde, übersät mit den schwarzen Flecken seines Totems, gezeichnet von den Linien seiner Rippen, dem phantastischen Muster seiner nach außen durchscheinenden Anatomie, alle viere ausgestreckt, besessen von einer faszinierenden Aversion, die ihn ins Innerste ihrer verschlungenen Wege gezogen hatte. Mein Vater schob sich mit den vielgliedrigen, komplizierten Bewegungen eines seltsamen Rituals vorwärts, in dem ich mit Entsetzen eine Imitation des Zeremoniells der Kakerlaken erkannte.
Seit dieser Zeit verleugneten wir unseren Vater. Seine Ähnlichkeit
mit einer Kakerlake trat jeden Tag deutlicher - hervor - mein Vater hatte sich
in eine Kakerlake verwandelt. - (
bs2
)
Verwandlung (65)
Verwandlung (66) Glaubst du also
nicht, daß es geschehen wird - wenn deine Annahmen begründet sind und die Dinge
den Übergang zum Sein
erproben - daß nach und nach verschiedene Formen der Klage zu hören sind? Mit
einem Schauder vernimmst du bereits ein zartes Zischen, dann ein Pfeifen, dann
einen tonlosen Triller, ein rasches Gepiep. Jetzt hegst du keinen Zweifel mehr:
wenn je die Dinge sich an einer Verwandlung erprobten,
dann ist sie jetzt im Begriff zu gelingen, ist womöglich schon gelungen, und
du bist jetzt an einem von Wesen besuchten Ort,
und überall lösen sich aus dem Dunkel Klänge -
scharfe, herbe, feine, dünne, zornige, bittere, rasche, hohe, dumpfe, sehnsüchtige,
ersterbende. Aber Klänge. Jetzt durchdringt die Klage jedweden Raum, und du
bist irgendwie im Zentrum der Klage, und womöglich phantasierst du sogar, daß
jene große Klage, die jetzt allenthalben ausbricht,
dir anvertraut ist, nur dir allein, und daß jemand, den du als Wesen bezeichnen
mußt, an dich appelliert, auf daß du diese Klage hältst und bewahrst. Aber wessen
Klage? Und warum so viel Klagen? Es ist nicht deine Aufgabe zu wissen, wer sich
beklagt und warum, denn deine Präsenz, wenngleich schweigsam, ist formell nicht
verschieden, zumal du erfahrungsgemäß Titular einer Klage bist und durch deine
Nächtlichkeit und Stummheit unbekannt bleibst, obwohl der, der diese große Klage
äußert, dich ahnt. - Giorgio Manganelli, Geräusche
oder Stimmen. Berlin 1989
Verwandlung (67) Der menschliche
Körper beginnt sich vier Minuten nach Eintritt des Todes zu zersetzen.
Das, was die Hülle des Lebens war, erfährt jetzt eine endgültige Verwandlung.
Der Körper fängt an, sich selbst zu verdauen. Die Zellen lösen sich von innen
her auf. Das Gewebe wandelt sich in Flüssigkeit, danach in Gas um. -
Andrea Camilleri, Die Flügel der Sphinx. Bergisch Gladbach 2009
Verwandlung (68)
Verwandlung (69)
Verwandlung (70) Vielfach wird gesagt, die Materie sei das, was Bestand hat. Das ist der Sinn des bekannten Wortes von Antoine Laurent de Lavoisier, wonach nichts entsteht und nichts verschwindet, sondern alles nur eine Umwandlung erfährt. Doch diese Aussage gilt nun gerade nicht für die Materie, zumindest nicht auf mikroskopischer Ebene. Wenn im Bereich unserer menschlichen Größenordnung zwei Gegenstände (zum Beispiel zwei Gläser) zusammenstoßen, kann es geschehen, dass sie zerbrechen. Die Bruchstücke bestehen dann ausschließlich aus Teilen der ursprünglichen Objekte. Es ist keinerlei Materie hinzugekommen, die nicht auch zuvor schon da gewesen wäre.
Doch in der Welt der Elementarteilchen sind die Dinge ein wenig anders. Dort zerbrechen Teilchen nicht in dem Sinne, wie wir ihn aus unserer Alltagswelt kennen. Selbst vor Stücken oder Teilen eines Teilchens zu sprechen, hat kaum Sinn, so dass auch das häufig benutzte Bild der russischen Puppe seine Grenzen hat. Wenn zwei Teilcher mit hoher Energie zusammenstoßen, können zwar durchaus mehrere Teilchen entstehen, doch diese neuen Teilchen waren vor dem Zusammenstoß noch gar nicht vorhanden. Sie können daher nicht als Bruchstücke der ursprünglichen Teilchen angesehen werden. Kann man dann sagen, sie seien bei dem Zusammenstoß entstanden? In gewisser Weise ja. Aber woher sind sie gekommen? Und wie lässt sich ihre plötzliche Entstehung erklären? Ganz einfach indem man sagt, dass die Energie des Zusammenstoßes sich letztlich in diese neuen Teilchen umgewandelt hat - was deshalb möglich ist, weil zwischen Masse (m) und Energie (E) nach Albert Einsteins spezieller RELATIVITÄTSTHEORIE eine Äquivalenz besteht. Die mit der Bewegung der Teilchen verbundene kinetische Energie kann sich nach sehr präzise bestimmbaren Regeln zu materiellen Teilchen »materialisieren«, die im Allgemeinen eine Masse haben. Das ist die eigentliche Bedeutung der Formel E=mc2, in der c für die Geschwindigkeit des Lichts im Vakuum steht. Sie besagt, dass reine ENERGIE sich - entgegen unserer alltäglichen Anschauung - in MASSE umwandeln kann. Umgekehrt kann auch Masse sich in Energie umwandeln, insbesondere bei Kernreaktionen (siehe KERNSPALTUNG und KERNFUSION).
Bei all diesen Prozessen bleibt die Materie {die Masse)
nicht erhalten. Unverändert bleibt lediglich die Energie.
Und was ist Energie? Etwas Immaterielles. Ganz grob gesagt, für die Physiker
ist die Materie eine Komponente eines so genannten Vierervektors {eines aus
vier Komponenten bestehenden Vektors), das heißt etwas hoch Abstraktes (vor
allem wenn die zugehörige Raum-Zeit noch aufgrund der Gravitation gekrümmt ist,
wie es die allgemeine Relativitätstheorie behauptet). Der Begriff der Materie
verflüchtigt sich damit in den Begriff einer ganz
speziellen mathematischen Entität. - (thes)
Verwandlung (71) Ich träumte,
ich wäre in den Körper eines Schweines hineingeraten,
aus dem hinauszugelangen mir nicht leichtfiel, und ich wälzte meine Borsten
in den kotigsten Sümpfen. Sollte dies eine Belohnung sein? Ziel meiner Wünsche,
ich gehörte nicht mehr der Menschheit an! Derart legte ich diese Tatsache aus
und empfand eine Freude dabei, die mehr als tief war. Jedoch forschte ich lebhaft,
welche tugendhafte Tat ich wohl vollbracht haben mochte, um von seiten der Vorsehung
diese besondere Gunst zu verdienen. Jetzt, da ich in der Erinnerung die verschiedenen
Phasen dieses furchtbaren Sichplattma-chens gegen den Bauch aus Granit nacherlebe,
während die Flut, ohne daß ich es spürte, zweimal über die unerschütterliche
Mischung aus toter Materie und lebendigem Fleisch hinwegrollte, ist es vielleicht
nicht nutzlos, zu verkünden, daß diese Erniedrigung wahrscheinlich nur eine
Strafe war, welche die göttliche Gerechtigkeit an mir verwirklichte. Aber wer
kennt seine innersten Bedürfnisse oder den Grund seiner verpesteten Freuden?
Die Verwandlung erschien meinen Augen immer nur als das hohe und großmütige
Echo eines vollkommenen Glückes, das ich schon lange erwartete. Endlich war
er gekommen, der Tag, da ich ein Schwein wurde! Ich versuchte meine Zähne an
der Binde der Bäume; meine Schweineschnauze betrachtete ich mit Wonne. Es blieb
auch kein Tüpfelchen Göttlichkeit übrig: ich konnte meine Seele bis zur äußersten
Höhe dieser unaussprechlichen Wollust erheben. Hört mich also an, und errötet
nicht, unerschöpfliche Karikaturen des Schönen, die ihr das lächerliche, höchst
verächtliche Eselsgebrüll eurer Seele ernst nehmt; und die ihr nicht begreift,
warum der Allmächtige in einem seltenen Augenblick vortrefflicher Posseiireißerei,
die gewiß nicht die allgemeinen Gesetze des Grotesken überschreitet, sich eines
Tages das bewunderungswürdige Vergnügen gönnte, einen Planeten mit seltsamen,
mikroskopischen Wesen zu bevölkern, die man MENSCHEN nennt und deren Materie
der roten Koralle gleicht. Gewiß habt ihr recht, bis auf Knochen und Fett, zu
erröten, aber hört mich an. Ich appelliere nicht an eure Intelligenz; ihr würdet
sie dazu treiben, Blut zu speien, ein solches Entsetzen hat sie vor euch: vergeßt
sie und seid konsequent mit euch selbst... Da gab es keinen Zwang mehr. Wenn
ich töten wollte, tötete ich; das passierte mir sogar oft, und niemand hinderte
mich daran. Die menschlichen Gesetze verfolgten mich noch mit ihrer Bache, obwohl
ich die Basse, die ich so ruhig verlassen hatte, nicht angriff; aber mein Gewissen
machte mir keinen Vorwurf. Tagsüber schlug ich mich mit meinen neuen Artgenossen,
und der Boden war von zahllosen Schichten geronnenen Blutes übersät. Ich war
der stärkste und blieb immer Sieger. Brennende Wunden bedeckten meinen Leib;
ich tat, als merkte ich es nicht. Die Tiere der Erde entfernten sich von mir,
und ich blieb allein in meiner strahlenden Größe. Wie groß aber war mein Erstaunen,
als ich versuchte, nachdem ich schwimmend einen Strom überquert hatte, um mich
aus den Gebieten zu entfernen, die meine Wut entvölkert hatte und andere Landstriche
aufzusuchen, um dort meine mörderischen und blutrünstigen Sitten einzuführen,
an diesem blühenden Ufer entlangzulaufen. Meine Füße waren gelähmt; keine Bewegung
übte Verrat an der Wahrheit dieser erzwungenen Unbeweglichkeit. Bei meinen übernatürliehen
Anstrengungen, meinen Weg weiterzugehen, erwachte ich und fühlte, daß ich von
neuem ein Mensch wurde. So gab mir die Vorsehung auf eine nicht unerklärliche
Art zu verstehen, daß sie meine hochfliegenden Pläne nicht einmal im Traum erfüllt
haben wollte. In meine ursprüngliche Gestalt zurückzukehren, war ein so großer
Schmerz für mich, daß ich noch ganze Nächte darüber weine. -
(mal)
Verwandlung (72)
Verwandlung (73)
Verwandlung (74) Eine
Fledermaus könnte als eine nach Ovids Art verwandelte
Maus angesehen werden, die, von einer unzüchtigen Maus verfolgt, die
Götter um Flügel bittet, die ihr auch gewährt werden. -
(licht)
Verwandlung (75)
Verwandlung (76)