Es war auch sehr schwer, etwas anderes für ihn zu finden. Man konnte ihm doch unmöglich etwa ein bestimmtes Meer zuweisen; abgesehen davon, daß auch hier die rechnerische Arbeit nicht kleiner, sondern nur kleinlicher war, konnte der große Poseidon doch immer nur eine beherrschende Stellung bekommen. Und bot man ihm eine Stellung außerhalb des Wassers an, wurde ihm schon von der Vorstellung übel, sein göttlicher Atem geriet in Unordnung, sein eherner Brustkorb schwankte. Übrigens nahm man seine Beschwerden nicht eigentlich ernst; wenn ein Mächtiger quält, muß man ihm auch in der aussichtslosesten Angelegenheit scheinbar nachzugeben versuchen; an eine wirkliche Enthebung Poseidons von seinem Amt dachte niemand, seit Urbeginn war er zum Gott der Meere bestimmt worden und dabei mußte es bleiben.
Am meisten ärgerte er sich — und dies verursachte hauptsächlich seine Unzufriedenheit mit dem Amt — wenn er von den Vorstellungen hörte, die man sich von ihm machte, wie er etwa immerfort mit dem Dreizack durch die Fluten kutschiere. Unterdessen saß er hier in der Tiefe des Weltmeeres und rechnete ununterbrochen, hie und da eine Reise zu Jupiter war die einzige Unterbrechung der Eintönigkeit, eine Reise übrigens, von der er meistens wütend zurückkehrte.
So hatte er die Meere kaum gesehn, nur flüchtig beim eiligen Aufstieg
zum Olymp, und niemals wirklich durchfahren. Er pflegte zu sagen, er warte
damit bis zum Weltuntergang, dann werde sich wohl
noch ein stiller Augenblick ergeben, wo er knapp
vor dem Ende nach Durchsicht der letzten Rechnung noch schnell eine kleine
Rundfahrt werde machen können. - (kaf)
Verwaltung (2) Vor dem Blockhaus lag ein Gefallener,
wässerig gedunsen unter seiner Uniform; auch fehlte ihm der Kopf. Kahler
öffnete ihm die Jacke, fingerte die Erkennungsmarke vom gallertig gewordenen
Rumpf, zerbrach sie und nahm die Hälfte des ovalen Blechstücks in die Kanzlei;
denn so mußte man es machen, wenn ein Toter dalag. Kahler zeigte Eugen,,
welche Vermerke in die Stammrolle eingetragen werden mußten, und daß also
dieser Mann namens Mägdefrau Toni, aus Waldkirchen
gebürtig und landwirtschaftlicher Arbeiter von Beruf, bei der Bereinigung
einer Einbruchstelle südlich Posselok sieben für Großdeutschland gefallen
sei. Merkwürdig, diese Bezeichnung ›Posselok sieben‹,als ob es sich um
einen Gerichtspflock bei einer Hinrichtung handele.
Hernach schrieb Kahler mit Stahlfeder und violetter Tinte einen Kondolenzbrief
aus einem Buch ab. - Hermann Lenz, Neue Zeit. Frankfurt am
Main 1979 (st 505, zuerst 1975)
Verwaltung (3)
Wiener Magistrat.
DER BEAMTE (zu einer vor ihm stehenden Partei) : Also wann S'
aufs Land gehn wolln - das wem mr gleich haben, da brauchen S' sich nur
nach der folgenden Vorschrift zu richten, passen S' auf (er liest, wobei
er ein bestimmtes Wort besonders lebendig hervorhebt, aber unaufhörlich
mit dem Zeigefinger der rechten Hand eine Bewegung vornimmt, die jede Hoffnung
abzuweisen scheint): »Personen, die im Jahre 1917 ihren Wohnort vorübergehend
in ein Heilbad oder auf die Dauer von mindestens vier Wochen in einen Kurort
oder in eine Sommerfrische verlegen, haben bis längstens 1. Juni bei der
Bezirksbehörde ihres ständigen Wohnortes mittelst des dort erhältlichen
amtlichen Formulars eine Abmeldung zu erstatten, in der der Name, der ständige
Wohnort, der Ort des Sommeraufenthalts, der Tag des voraussichtlichen Eintreffens,
die Anzahl der Begleitpersonen und die beabsichtigte Dauer des Aufenthalts
anzugeben sind; eine gleichlautende, zweite Ausfertigung dieser Abmeldung
ist der Bezirksbehörde des gewählten Sommeraufenthalts zuzusenden. Die
Personen haben noch vor der Abreise bei ihrer Brotkartenausgabestelle den
Lebensmittelkartenabmeldeschein zu beheben und sohin den Bezug derjenigen
Lebensmittel, deren Verkauf rayoniert ist, gegen Bestätigung auf dem Lebensmittelkartenabmeldeschein
bei der betreffenden Verschleißstelle abzumelden. Der Verschleißer rayonierter
Lebensmittel hat eine Liste zu führen, in welcher Name, Wohnort, Tag der
Abreise und Zahl der Begleitpersonen der sich Abmeldenden sowie die Menge
der in Abfall kommenden Lebensmittel einzutragen sind; diese Liste ist
derjenigen Stelle, von der die Zuweisung rayonierter Lebensmittel erfolgt,
am Ende jeder Woche vorzulegen. In dem Heilbad, dem Kurort oder der Sommerfrische
haben sich die Personen unter Vorweisung des Lebensmittelkartenabmeldescheines
(Die Partei verschwindet) bei der Brotkartenausgabestelle sowohl
nach dem Eintreffen als auch vor dem Verlassen dieser Orte zu melden. Die
Ausfolgung von Lebensmittelkarten darf im Orte des Sommeraufenthalts sowie
nach der Rückkehr im ständigen Wohnort nur auf Grund des mit den entsprechenden
Amts vermerken versehenen Lebensmittelkartenabmeldescheines erfolgen.
Die politischen Bezirksbehörden sind ermächtigt worden, den Einkauf von
Lebensmitteln durch die Fremden zu rayonieren und außerdem die Verabfolgung
von Speisen in den Speisewirtschaften der Heilbäder, Kurorte und Sommerfrischen
zu regeln. Gastwirtschaften haben auf die Mehrzuweisung von Lebensmitteln
für die Verpflegung von Heilbäder- und Kurortebesuchern sowie Sommerfrischlern
im Allgemeinen nur dann Anspruch, wenn sie den erhöhten Bedarf durch Abgabe
der von den Kostteilnehmern eingezogenen Kartenabschnitte nachweisen. Für
Ausflügler, die nur auf kurze Zeit Heilbäder, Kurorte und Sommerfrischen
besuchen, können besondere Verpflegsvorsorgen nicht getroffen werden. Weiters
sind die politischen Bezirksbehörden ermächtigt worden, den Besuchern von
Heilbädern, Kurorten und Sommerfrischen zur Verhinderung des Hamsterns
von Lebensmitteln den unmittelbaren Einkauf gewisser Lebensmittel beim
Produzenten zu verbieten.« - Na alstern, jetzt wissen S' es, jetzt können
S' - (er blickt auf) Wo is denn der hin verschwunden? (Er sucht
auf dem Boden.) Sie Herr, warten S' auf den Lebensmittelkartenabmeldeschein!
(Kopfschüttelnd) Mirkwirdiger Mensch das. Was sich die Leut herausnehmen!
(Er sucht weiter. Dann erhebt er sich.) Der hats net erwarten können.
Am End is er gar schon am Land! - Karl Kraus, Die letzten Tage
der Menschheit. München 1964 (dtv sr 23, zuerst 1926)
Verwaltung (4) Da nach Art der alten Spartaner bei den Übungen auf dem Sportplatze alle, Männer und Frauen, völlig nackt sind, erkennen die Beamten, die die Aufsicht führen, wer zeugungsfähig und wer ungeeignet zum Beischlaf ist und welche Männer und Frauen ihrer körperlichen Veranlagung nach am besten zusammenpassen.
Dann erst weihen sie sich, nach einem Bade, dem Liebeswerk. Große und schöne Frauen werden nur mit großen und tüchtigen Männern verbunden, dicke Frauen mit mageren Männern und schlanke Frauen mit starkleibigen Männern, damit sie sich in erfolgreicher Weise ausgleichen.
Abends kommen die Kinder und bereiten das Schlafgemach. Dann gehen sie selbst nach Anordnung des Aufsehers und der Aufseherin zu Bette. Aber nicht eher schreiten sie zu geschlechtlicher Vereinigung, als bis sie die Speise verdaut und zu Gott gebetet haben.
Im Schlafgemach stehen schöne Bildwerke berühmter Männer, die die Frauen anschauen. Darauf richten sie die Blicke durch das Fenster zum Himmel und bitten Gott, er möge ihnen einen tüchtigen Nachkommen schenken.
Sie schlafen in zwei getrennten Kammern bis zur Stunde des Beilagers.
Dann aber erhebt sich die Aufseherin und öffnet beide Türen von außen.
Diese Stunde bestimmen der Astrologe und der Arzt, die sich bemühen, die
Zeit zu treffen, in der Venus und Merkur östlich der Sonne in einem günstigen
Hause stehen, in gutem Aspekt zu Jupiter, sowie zu Saturn und Mars, oder
aber in gar keiner Beziehung zu diesen. Besonders werden Sonne und Mond,
die sich sehr oft feindlich entgegenstehen, geschätzt. Sie bevorzugen die
Jungfrau im Horoskop. Sie hüten sich aber vor Übeltätern im Winkel. -
Tommaso Campanella, Der Sonnenstaat. In: Der utopische Staat. Hg. Klaus
J. Heinisch. Reinbek b. Hamburg 1970 (zuerst ca. 1602)
Verwaltung (5)
Verwaltung (6, chinesische, Tang-Epoche) Als Tschiao Tai die Tür aufstieß, quietschte sie in verrosteten Angeln. Tschiao Tai hob seine Laterne hoch.
Sie sahen sich in einer weiten leeren Halle. Dicke Lagen Staub und Schmutz bedeckten die Fliesen, und von den Wänden hingen Spinnweben herunter. Richter Di ging bis zur Estrade und besah sich das verschossene und zerrissene rote Tuch über dem Amtstisch. Eine fette Ratte huschte davon.
Der Richter winkte Tschiao Tai heran, dann begab er sich auf die Estrade, ging rund um den Tisch und schob den Schirm beiseite, der eine Tür verdeckt hatte, die direkt in das Privatbüro des Richters führte. Eine Staubwolke ergoß sich über ihn.
Das Büro war bis auf einen wackligen Tisch ohne Decke, einen Armstuhl mit zerbrochener Lehne und drei Holzschemel völlig leer.
Tschiao Tai öffnete die Tür an der Wand gegenüber. Ein naßkalter Gestank schlug ihnen entgegen. Die Wände waren mit Regalen bedeckt, die verschimmelte Lederkästen für die Akten enthielten.
Richter Di schüttelte den Kopf.
«Ein nettes Archiv», murmelte er. - Robert van Gulik, Mord
im Labyrinth. Zürich 1985