erwahrlosung
Ein ziemlich großer, fast dicker Mensch mit hohen Schultern, eingezwängt
in einen langen Überzieher. Er behält seinen Überzieher an, weil er krank ist
und eine unzuträgliche Temperatur fürchtet. Vor allem aber ein ungewöhnliches
Gesicht: bläuliches, schon angegangenes Wildfleisch, große, tiefliegende Augen
einer orientalischen Tänzerin mit zwei breiten Schattenringen;
üppiges, glattes, schlecht gestutztes schwarzes Haar, das seit zwei Monaten
nicht geschnitten war; ein ungepflegter schwarzer Schnurrbart.
Er wirkte mit seinem Lächeln wie eine Handleserin.
Während ich ihm die Hand drücke, fällt mir sein ausgeweiteter, abgetragener
Kragen auf, der — ohne Übertreibung - bestimmt seit acht Tagen nicht gewechselt
war. Ärmliches Aussehen und kleine zierliche Schuhe für einen Frauenfuß. Eine
fadenscheinige Krawatte; weite, zehn Jahre alte Hosen. Ich denke an alles, was
in seinen jüngst erschienenen Büchern steht. Er sitzt neben mir; ich sehe ihn
an. Trotz des Schnurrbarts wirkt er wie eine sechzigjährige jüdische Dame, die
einmal schön gewesen sein mag... Ich will seine Hände sehen, aber sie stecken
in weißen, bemerkenswert schmutzigen Handschuhen; dafür sehe ich ein zartes
weißes Handgelenk. Das Gesicht scheint eingefallen gewesen und dann wieder lächerlich
unvollständig aufgeblasen worden zu sein; die Fettpolster liegen irgendwo, nur
nicht da, wo man sie erwartet. Jung, alt, krank und feminin - eine seltsame
Erscheinung... - René Boylesve über
Marcel Proust, nach: Wilhelm Genazino, Achtung Baustelle.
Frankfurt am Main 1998
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