ersteck  Verstecktes Kind. — Es kennt in der Wohnung schon alle Verstecke und kehrt darein wie in ein Haus zurück, wo man sicher ist, alles beim alten zu finden. Ihm klopft das Herz, es hält seinen Atem an. Hier ist es in die Stoffwelt eingeschlossen. Sie wird ihm ungeheuer deutlich, kommt ihm sprachlos nah. So wird erst einer, den man aufhängt, inne, was Strick und Holz sind. Das Kind, das hinter der Portiere steht, wird selbst zu etwas Wehendem und Weißem, zum Gespenst. Der Eßtisch, unter den es sich gekauert hat, läßt es zum hölzernen Idol des Tempels werden, wo die geschnitzten Beine die vier Säulen sind. Und hinter einer Türe ist es selber Tür, ist mit ihr angetan als schwerer Maske und wird als Zauberpriester alle behexen, die ahnungslos eintreten.

Um keinen Preis darf es gefunden werden. Wenn es Gesichter schneidet, sagt man ihm, braucht nur die Uhr zu schlagen, und es muß so bleiben. Was Wahres daran ist, das weiß es im Versteck. Wer es entdeckt, kann es als Götzen unterm Tisch erstarren machen, für immer als Gespenst in die Gardine es verweben, auf Lebenszeit es in die schwere Tür bannen. Es läßt darum mit einem lauten Schrei den Dämon, der es so verwandelte, damit man es nicht findet, ausfahren, wenn es der Suchende faßt — ja, wartet diesen Augenblick nicht ab, greift ihm mit einem Schrei der Selbstbefreiung vor. Darum wird es den Kampf mit dem Dämon nicht müde. Die Wohnung ist dabei das Arsenal der Masken. Doch einmal jährlich liegen an geheimnisvollen Stellen, in ihren leeren Augenhöhlen, ihrem starren Mund, Geschenke. Die magische Erfahrung wird Wissenschaft. Das Kind entzaubert als ihr Ingenieur die düstere Elternwohnung und sucht Ostereier.  - (ben2)

Versteck (2) Als Galilei sein Fernrohr zum Himmel richtete und ungeahnte Dinge sah, hielt auch er sich an eine schlechte Gepflogenheit der Gelehrten seiner Zeit, die, wie unsere Wissenschaftler heute, einerseits eine Entdeckung möglichst lange für sich behalten wollten, zum anderen aber fürchteten, daß unabhängig von ihnen ein ebenso Gescheiter das gleiche herausfinden und ihnen den Ruhm der Erstentdeckung rauben könnte. Den Ausweg aus diesem Dilemma suchte man sich mit Hilfe eines sogenannten Anagramms. Das Ergebnis wurde in einen möglichst prägnanten, natürlich lateinischen Satz gefaßt, dann wurden die Buchstaben entweder willkürlich durcheinandergeworfen oder in alphabetischer Reihenfolge veröffentlicht. Wer dieses Spiel besonders liebte, der versuchte auch noch, die Buchstaben so umzustellen, daß die verschlüsselte Reihenfolge einen neuen Sinn ergab. Wenn dann ein anderer später dieselbe Entdeckung machte, konnte man zeigen, daß man das Ergebnis, auf das der Kollege jetzt so stolz war, schon längst selbst in einem Anagramm versteckt hatte. Der Ruhm der Erstentdeckung war gerettet, der Kollege hatte das Nachsehen. So verschlüsselte Galilei seine Entdeckung des Saturnringes und schickte die sinnlose Buchstabenfolge an Kepler, der sich vergeblich abmühte, das Anagramm zu entschlüsseln. Kurz danach ließ er Kepler ein weiteres Anagramm zukommen: »Haec immatura a me jam frustra legunturoy«, zu deutsch: »Diese unreifen Dinger suche ich vergeblich.«

Was steckte hinter diesem sinnlosen Satz? Galilei ließ sich einige Zeit später zur Lösung herab: »Cynthiae figuras aemulatur mater amorum.« Wenn man weiß, daß mit der »Mutter der Liebe« die Venus gemeint ist, mit Cynthia der Mond, dann versteht man die Übersetzung der Lösung: »Die Mutter der Liebe eifert den Gestalten der Cynthia nach.« Das war die blumige Umschreibung, daß die Venus im Fernrohr Phasen erkennen läßt wie der Mond. - Rudolf Kippenhahn, Unheimliche Welten. Planeten, Monde und Kometen. München 1990 (dtv 11286, zuerst 1987)

Versteck (3)  Um vor unwillkommenen Besuchen geschützt zu sein, verbarg er sich manchmal unter dem Namen einer Witwe Durand. Auch seine Briefe sind gelegentlich im Scherz so unterzeichnet. Es war ein Kunststück, die Adresse der Witwe Durand zu bekommen. Hatte man sich aber glücklich zu Balzacs Haustür durchgekämpft, so wurde man nur auf ein bestimmtes Stichwort hin eingelassen, das oft wechselte. Dem Pförtner mußte man beispielsweise sagen: «Die Zeit der Pflaumen ist herbeigekommen»; dem Bedienten, der einem dann entgegentrat, flüsterte man zu: «Ich bringe belgische Spitzen»; endlich wurde man von einem Kammerdiener in Empfang genommen, dem man versichern mußte, daß Mme Bertrand sich besten Wohlseins erfreue. Nach Erledigung dieser Zeremonien, die Th. Gautier beschrieben hat, wurde man endlich eingelassen. - Als einer seiner Verleger Balzac einmal fragte, wann und wo er ein Manuskript abholen könnte, antwortete Balzac, er solle abends einen Boten in die Champs Elysees schicken. Dort werde an dem soundsovielten Baum ein Mann stehen, der das Manuskript habe.  - Ernst Robert Curtius, Balzac. Bern 1951

Versteck (4) Man brauchte nicht über einen besonderen Scharfblick zu verfügen, um zu sehen, daß für Doktor Kafka das Kanzleileben eine Qual war.

Er saß oft ganz krumm und in sich zusammengesunken, mit gelblich-grauem Gesicht, hinter dem großen, blankgefegten Schreibtisch. Fragte man ihn aber nach seinem Befinden, so antwortete er immer künstlich munter: »Danke, es geht mir gut.«

Diese Abwehr war eine bewußte Unwahrheit, etwas, das zu Doktor Kafka überhaupt nicht paßte, denn nach den Mitteilungen meines Vaters und einiger seiner Amtskollegen, die ich auch kannte, gab es in der ganzen Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt keinen zweiten so wahrheits- und gerechtigkeitsbesessenen Menschen wie den Leiter der Rechtsabteilung.

Nach dem Bericht meines Vaters soll ihm Kafka einigemal gesagt haben: »Ohne Wahrheit, die jeder begreift und der sich deswegen eben jeder freiwillig unterwirft, ist jede Ordnung nur eine rohe Gewalt, ein Käfig, der früher oder später unter dem Druck des Wahrheitsbedürfnisses zerfällt.« Mein Vater und seine Bürokollegen sahen in Kafkas Wahrheitsliebe die Manifestation eines stark entwickelten ethischen Willens; in Wirklichkeit handelt es sich jedoch - nach Kafkas eigenen Worten - um etwas ganz anderes. Das erfuhr ich folgendermaßen:

In der Zeit meiner ersten Besuche bei Doktor Kafka reagierte ich oft auf seine Aussprüche mit der erstaunten Frage: »Ist das wirklich wahr?« Darauf pflegte Doktor Kafka in der ersten Zeit nur mit einem kurzen Nicken zu entworten. Als ich ihn dann aber schon längere Zeit kannte und als Ausdruck meines Erstaunens immer noch diese stereotype Frage des Zweifelns verwendete, sagte er mir einmal: »Unterlassen Sie, bitte, diese Frage. Sie stellen mich schon mit diesem einzigen Satz immer wieder vor mir bloß. Ich sehe mein Unvermögen. Die Lüge ist nämlich eine Kunst, die - wie jede andere Kunst - alle Kräfte des Menschen erfordert. Man muß sich ihr ganz und gar hingeben, man muß der Lüge zuerst selbst glauben, dann erst kann man mit ihr die anderen Menschen überzeugen. Die Lüge benötigt das Feuer der Leidenschaft. Dadurch enthüllt sie aber mehr als sie verbirgt. Das kann ich mir nicht leisten. Darum gibt es für mich nur ein Versteck - die Wahrheit.«

Zwischen seinen leicht geöffneten Lippen strömte, leise zischelnd, ein koboldhaftes Lachen hervor.  - Gustav Janouch, Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Frankfurt am Main 1981 (Fischer Tb. 5093, zuerst 1954)

Versteck (5) »Nun«, sagte das Pferdchen, »es wird Zeit, daß du dich versteckst. Zieh einen Nagel aus meinem linken Hinterhuf, klettere an seine Stelle hinein und zieh den Nagel hinter dir zu. Der König wird unverweilt erscheinen und mich töten; denn ein blinder Seher, den er hat, sagte, du seist in meinem Bauche versteckt. Aber ich werde wieder ins Leben zurückkehren. Du indessen tu das, was ich dich jetzt hieß. Wenn die Sonne am Abend sinkt, verlaß dein Versteck, fasse mit der Hand in mein rechtes Ohr und zieh ein Fläschchen hervor, das dort steckt. Reibe meine Zunge mit der Flüssigkeit in der Flasche, und ich werde so heil aufstehen, wie ich jetzt bin.«

Ceart tat, was ihm das Pferdchen geboten hatte, und war  gar nicht lange in seinem Versteck, als der König mit dem blinden Seher eintrat. Sie töteten das Pferdchen und schlitzten es auf. Jeden Zoll durchsuchten sie in ihm. Aber sie fanden Ceart nicht. Der König war sehr ergrimmt und sagte zu dem blinden Seher: »Ich zahle dir schon mehr als zweimal zwanzig Jahre Sold, und nun kannst du mir nicht einmal sagen, wo der Mann versteckt ist.« - (ir)

Versteck (6)  Ajanta ist voller Geheirnnisse; im zweiten Jahrhundert vor Christus begann man es in den Fels zu meißeln, wohl gegen das achte Jahrhundert, als der Buddhismus in Indien unterging, wurde es verlassen und dem undurchdringlichen Schutz des Dschungels anheimgestellt. Tausend Jahre lang wußte man nichts von Ajanta.

Ein Engländer, so erzählt man, hat es entdeckt, als er einem wilden magischen Tiger nachjagte. Wohl tausend Jahre arbeiteten dort Mönche, Maler und Bildhauer; aber kein Text erwähnt etwas davon. Die Buddhisten von Ajanta liebten die Pracht und wollten geheim bleiben. Mit Gelassenheit und betäubender Raffinesse entfalten sich die Malereien; unbekannte Maler, die etwas von Perspektive verstanden und Bildergruppen zu komponieren wußten, erzählen in diesen Felsentempeln Geschichten vom MEISTER, von seiner Erleuchtung und von seinen früheren Leben. Die zarte ockerfarbene Figur dort ist Buddha; ein weicher, fettleibiger, schmachtender Buddha; und um ihn herum alle bizarren Zeichen des Daseins, Affen, Pfauen, zuhörende Frauen, spielende Frauen, weibliche Zaubergeschöpfe, die sich zurechtmachen mit dem verwunschenen Schmuck zugleich irdischer und himmlischer Juwelen. Man staunt über diese subtile Doppelbödigkeit, diese meditierende Abstraktion, komplizenhaft dem Leben verbunden, in das sie eintaucht. Man wird bezaubert von diesem zufälligen, heiteren, zerstreuten Leben, das unbewußt und reich durch seine Armut an Metaphysischem um den ERLEUCHTETEN wogt. Dieses Bild eines Buddhismus, der die Freude gelten läßt und kennt, diese zerbrechliche und leichtfertige Fleischlichkeit, Zierde und Geleit für die große Gestalt des Buddha, überraschen und berücken. In den Malereien von Ajanta erscheint etwas, das vielleicht einen kurzen verlorenen Augenblick lang ein mögliches Bild der Welt war, dramatischerweise leicht begehbar und zugleich tragischerweise unzugänglich. Hinreißende weibliche Gestalten bewegen sich in den Hohlräumen zwischen Natürlichem und Heiligem, wiegen ihre weise frisierte Haarpracht am Ende einer der Meditation geweihten Höhle. - Giorgio Manganelli, Das indische Experiment. Berlin 2004 (zuerst 1992)

Versteck (7)  Pinky ging zu dem Kaninchenstall, griff durch die Klappe und packte den Kaninchenbock bei den Ohren. Mit einer geschickten Bewegung seiner freien Hand entfernte er ein kleines quadratisches Pflaster vom Rektum des Kaninchens und zog dann einen langen Gummipfropfen mit einem winzigen Metallgriff, der einem Abflußstöpsel glich, heraus. Das Kaninchen verharrte regungslos, starrte ihn nur aus riesigen, von Furcht gebannten Augen an. Pinky knetete den Bauch des Kaninchens, bis eine kleine Aluminiumkapsel aus dem After des Tieres kam. Er steckte die Kapsel in seine Tasche und verschloß das Kaninchen wieder.

Er fragte sich, welche anderen Verstecke Sister Heavenly wohl noch hatte. Er war ihr Neffe und ihr einziger lebender Verwandter, aber sie hatte ihm nie etwas anvertraut. Vermutlich hatte sie beschlossen, das Kaninchen zu schlachten, wenn sie ihm dieses Versteck verriet.  - Chester Himes, Heroin für Harlem. Reinbek bei Hamburg 1968 (zuerst 1966)

Versteck (8)  Im Sommer dieses Jahres war ein wahrer Jubel in Dijon, wie in ganz Frankreich, als die Volksrepräsentanten in den Departements und Distrikten die scheußliche Mordmaschine, die Guillotine, aus den Augen des Publikums wegschaffen ließen. Diese Schreckbühne stand sonst immer mitten auf den größten und freiesten Plätzen, das Messer immer hoch, und drohte jedem Verbrecher den Tod. Aber jetzt, da die junge Republik der Verräterei von jenen gewachsen war, jetzt brachte man sie weg und stellte sie in Kirchen oder Klöstern hin, holte sie bei jedesmaligem Notfall nur hervor und schaffte sie gleich nach dem Gebrauch wieder weg. - F.C. Laukhards, vorzeiten Magister der Philosophie und jetzt Musketiers unter dem Thaddenschen Regiment zu Halle, Leben und Schicksale, von ihm selbst beschrieben und zur Warnung für Eltern und studierende Jünglinge herausgegeben. Fünf Teile, 1792–1802

Versteck (9)  »Das ist ein fabelhaftes Versteck. Da gehen Sie hin. Falls ich einen Chinesen mit einer Botschaft zu Ihnen schicke, wie findet er Sie dann?«

»Links von der Tür ist eine Treppe. Die zweite und dritte Stufe muß er auslassen, weil da irgendeine Alarmvorrichtung eingebaut ist. Das gilt auch für das Geländer. Im zweiten Stock biegt man wieder nach links. Der Korridor ist dunkel. Die zweite Tür rechts — auf der rechten Seite des Korridors — führt in ein Zimmer mit einem Wandschrank, von dem aus man durch eine Tür, die hinter Kleidern verborgen ist, in ein zweites Zimmer gelangt. In diesem Zimmer sind meistens Leute. Ihr Bote muß also eine günstige Gelegenheit abpassen, um von da aus durchs Fenster auf einen kleinen Balkon zu klettern. Das Balkongeländer ist massiv. Man kann also, wenn man sich duckt, weder von der Straße noch von anderen Häusern aus gesehen werden. Am anderen Ende des Balkons sind zwei lose Dielenbretter. Man schlüpft hindurch und landet in einer Art Kammer mit einer Falltür. Darunter befindet sich noch mal genauso eine Kammer, und dort werde Ich vermutlich stecken. Die untere Kammer hat noch einen anderen Ausgang, über eine Treppe, aber den hab' ich nie benutzt.« - Dashiell Hammett, Rote Tür in Chinatown. Frankfurt am Main und Berlin 1969

Versteck (10) Ein Amt ist gut: man legt es zwischen sich und die Menschen, und so hat man sein ruhiges und listiges Versteck und kann tun und sagen, was jedermann von uns zu erwarten für sein Recht hält. Auch ein frühzeitiger Ruhm kann so benutzt werden: vorausgesetzt, daß hinter ihm, unhörbar, unser eigenes Selbst wieder mit sich frei spielen und über sich lachen kann.   - Friedrich Nietzsche, "Die Unschuld des Werdens"

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{?}
VB
Unsichtbarkeit
Synonyme