erschlingerin  Nie habe ich gewußt, mit welchem Zeitwort von der Körperliebe erzählen. Am nächsten kam jenes Verb aus der Odyssee, wo es von Mann und Frau heißt, daß sie miteinander »ruhten«, oft »die ganze Nacht«, »bis in die Morgenröte hinein«. Und so hatte auch ich immer wieder mit dieser Frau geruht.

Mit solcher Ruhe war es jetzt aus, die Stimme redete weiter und weiter, in Abwandlungen jeweils das gleiche. Und dann wurde das unsichtbare Wesen neben mir, eben noch nichts als leichtsinniger Sommerleib, tätlich. Zuerst war es nur etwas wie ein Trampeln auf der Stelle. Dann schlug es schon um sich und wuchs zu einer Riesin aus, oder wie das bei dem Liebhaber uns-rer heimischen Sagen, bei Filip Kobal, hieße, zu einer »Perchtin«. Und der schwere plumpe Körper dieser Ausgeburt der Finsternis setzte sich genau wie in der Sage auf ihr Opfer, stülpte sich über es, walkte, zerrte, preßte es, stopfte es in sich hinein. Ein ähnliches Grauen habe ich nur in jenem einen Traum erlebt, als ich mit meiner Mutter schlief.

Einem Traum oder einer Sage entsprach auch, daß ich mich »mit letzter Kraft befreite«, »ich weiß nicht wie«. Ich flüchtete aus dem Bett, dem Raum, dem finsteren Haus, und als ich mich im Laufen zu diesem umdrehte, hockte dort, wie seinerzeit im Dorf, die Verschlingerin über dem Haustor, fassadengroß, die Beine auseinandergespreizt an der Oberschwelle und zu beiden Seiten der Pforte zu Boden baumelnd, und im Davonrennen verirrte ich mich heillos, nahm den Bus in die Gegenrichtung zum Bahnhof, geriet in Vororte, wo ich, am hellen Morgen, nicht einmal mehr sonnenklare Aufschriften entziffern konnte. Und nicht einmal befreit kam ich mir vor, sondern, trotz der frischen Luft und der Passanten, die mich abschirmten, fortgesetzt von jenem glitschigen Plazentadunkel erstickt. - Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht. Frankfurt am Main 1994

Verschlingerin (2)  Eines stillen Nachmittags gewahrte Ramakrishna eine wunderschöne Frau, die vom Ganges heraufstieg und sich dem Hain näherte, in dem er meditierte. Er bemerkte, daß sie sich  anschickte, ein Kind zu gebären. Im Augenblick war das Kind geboren, und sie nährte es zärtlich. Sofort aber nahm sie ein grausiges Aussehen an, packte das Kind mit ihren nun häßlichen Kiefern und zerquetschte und zermalmte es zwischen den Zähnen. Nachdem sie es verschlungen, ging sie wieder zum Ganges zurück, wo sie verschwand.  - Nach Joseph Campbell, Der Heros in tausend Gestalten.  Frankfurt am Main 1978 (zuerst 1934)

Verschlingerin (3)   Die Lamia oder Lamo ist ihrem Namen nach die »Verschlingerin«: laimos bedeutet den Schlund im Hals. Mit dem Kurznamen Lamo wurde sie wahrscheinlich für die Kinder, in der Sprache der Ammen, benannt, wie andere Schreckgestalten auch: Akko, Alphito, Gello, Karko und Mormo für Mormolyke. Es wurde erzählt: Lamia war eine Königin und herrschte in Libyen. Man zeigte da sogar ihre Höhle. Zeus liebte sie - denn sie war schön - und zeugte mit ihr Kinder. Diese fielen der Eifersucht der Hera zum Opfer. Seitdem ist die Lamia vor Kummer häßlich und raubt aus Neid den anderen Müttern ihre Kinder. Sie ist imstande, ihre Augen herauszunehmen, damit sie immer wachen, auch wenn die Lamia selbst schläft. Und sie kann sich in alle Gestalten verwandeln. Gelingt es aber, sie gefangenzunehmen, so können die geraubten Kinder aus dem Bauch der Lamia lebendig hervorgezogen werden. - (kere)
 
Mutter Verschlingen
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