Verschleiß  Seit einiger Zeit - und es wurde nach meiner Rückkehr von den Inseln nur noch schlimmer - fühlte ich auf dem linken Ohr eine zunehmende Taubheit. Um zu verstehen, was man mir sagte, mußte ich manchmal um die Wiederholung des Gesagten bitten. Hand in Hand mit diesem Gefühl, von der Außenwelt abgeschnitten zu sein, ging die Empfindung, das Gleichgewicht verloren zu haben (als geböte eine meiner Körperhälften nicht mehr über denselben Halt wie die andere). Nachdem ich meine Trägheit überwunden und beschlossen hatte, Abhilfe zu schaffen, konsultierte ich einen Hals-Nasen-Ohrenarzt, der mir mit einem Warmwasserstrahl einen dicken Ohrenschmalzpfropf - »menschliches Wachs« - aus dem Ohr entfernte. Von dieser Halbtaubheit befreit, fühlte ich mich noch immer nicht auf der Höhe, und so ging ich zu meinem Hausarzt, der eine Fettleber und Zirrhosegefahr feststellte. Da obendrein meine Augen nachzulassen begannen (vor allem wenn ich müde war, beispielsweise nach einem Abend, an dem ich, ohne mich zu betrinken, zuviel Wein oder überhaupt Alkohol getrunken hatte), schickte mich derselbe Arzt zu einem Augenarzt und dieser zu einem Optiker, mit dem Ergebnis, daß ich nun beim Lesen -und auch beim Schreiben - eine Brille trage, die mir, wenn sie auf meiner Nase sitzt, ein pedantisches und plumpes Aussehen verleiht, das mir auf die Nerven fällt. Seit der erwähnten Konsultation benutze ich außerdem Augentropfen, »blaues Kollyrium«, gegen die Bindehautentzündung, die mir jedes oder fast jedes Mal die Augenlider zeichnet, wenn ich mir eine Entgleisung erlaube. Zu guter Letzt plagten mich auch noch Nackenbeschwerden (Kreuzschmerzen, zu bestimmten Zeiten und bei bestimmten Bewegungen das Gefühl, als klicke irgendetwas), die ich zunächst auf eine falsche Sitzhaltung während des Flugs von Frankreich nach Martinique geschoben hatte, und so wurde ich vor ungefähr sechs Wochen geröntgt: das Ergebnis waren drei Photographien — Teilporträts von mir, makabre Brustbilder des poor Yorick -, die zeigten, daß ich an Arthrose (oder einfacher: an Rheumatismus?) der oberen Halswirbel leide. So befinde ich mich nun in den Händen eines Röntgenologen, dessen Behandlung ich über mich ergehen lasse, obwohl er keinen Hehl daraus gemacht hat, daß mein Leiden hauptsächlich auf Knochenverschleiß beruht und ich keine radikale Heilung erwarten darf (denn, so gab er mir mit rührender Behutsamkeit zu verstehen, was einmal außerstand ist, kann man nicht instand setzen).  - Michel Leiris, Die Spielregel 2. Krempel. München 1985 (zuerst 1955)

Verschleiß (2)
 

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