erschlagenheit  Was meinen guten Blinden angeht, von dem ich berichten will, mögen Euer Gnaden mir glauben: seit Gott die Welt erschuf, hat er keinem Menschen mehr Verschlagenheit und Scharfsinn mitgegeben als ihm. In seiner Zunft war er Meister. Wohl hundert und noch mehr Gebete wußte er auswendig, und er sagte sie mit tiefer und feierlicher Stimme so laut her, daß die Kirche davon widerhallte. Beim Beten trug er ein würdiges Gebaren und eine demütige und andächtige Miene zur Schau, ohne, wie andere tun, Grimassen zu schneiden, das Maul zu verzerren oder die Augen zu verdrehn.

Daneben fand er tausend andere Mittel und Wege, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Er rühmte sich, Gebete von vielerlei verschiedener Wirkung zu wissen, solche für Unfruchtbare so gut wie für Weiber in Kindsnöten oder für Verschmähte, damit ihre Männer in Liebe zu ihnen entbrennten. Den Schwangeren sagte er gar wahr, ob sie einen Sohn oder eine Tochter trügen. Wenn man ihn hörte, wußte Galen in Dingen der Medizin nicht halb so viel wie er, insbesondere gegen Zahnweh, Ohnmacht und die Übel der Frauen. Kurz, niemand klagte ihm irgendein Leid, ohne daß er mit einem Rat bei der Hand war und sagte: »Tut dies, tut jenes; macht einen Absud von diesem Kraut, nehmt jene Wurzel.« Daher auch jedermann ihm zulief, vornehmlich die Weiber, denn sie glaubten ihm aufs Wort. Daraus zog er mit den besagten Künsten großen Gewinn und verdiente in einem Monat mehr als hundert andere Blinde in einem Jahr. - Lazarillo von Tormes, nach (schel)

Verschlagenheit (2)

Schlauheit
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