erschiebung Ein
Cronopium will die Haustür öffnen, und als es die Hand in die Tasche steckt,
um den Schlüssel zu angeln, angelt es eine Schachtel Zündhölzer, worauf sich
unser Cronopium sehr grämt und zu denken anhebt, daß, wenn es anstelle des Schlüssels
die Zündhölzer findet, es schrecklich wäre, sollte die Welt sich plötzlich verschoben
haben, und, wenn die Zündhölzer sind, wo der Schlüssel sein sollte, es gut sein
kann, daß es die Brieftasche voller Zündhölzer und die Zuckerdose voller Geld
und das Klavier voller Zucker und das Telefonbuch voller Melodien und den Kleiderschrank
voller Abonnenten und das Bett voller Kleider und die Blumentöpfe voller Bettlaken
und die Straßenbahnen voller Rosen und die Fluren voller Straßenbahnen findet.
Darüber grämt sich unser Cronopium schrecklich und schaut flugs in den Spiegel,
aber da der Spiegel etwas verrückt ist, sieht es
den Schirmständer im Korridor, und seine Ahnungen werden wahr. -
(
cron
)
Verschiebung (2) »Aha«, räsoniert die Lehrerin Santoni. »Wenn die Pflanzen Tiere werden, dann bleibt den Tieren nichts anderes übrig, als ins nächste Reich auszuwandern, und das ist das unsere. Es stimmt, daß der Mensch (die Frau natürlich Inbegriffen, der Grammatik zum Trotz, die uns ins männliche Geschlecht mit einschließt) seinerseits eigentlich zum Tierreich gehört. Aber im Lauf der Jahrtausende haben sich bei uns Unterschiede herausgebildet. Durch unsere Kultur gehören wir zu einem anderen Reich als die Katzen oder, sagen wir, die Flöhe und die Mäuse.« In ihrem nachdenklichen Geist erwacht aber noch eine Frage.
»Wenn die Tiere in das Herrschaftsgebiet der Menschen vordringen und die
Pflanzen in das der Tiere«, so fragt sie sich, »wer wird dann das Pflanzenreich
besetzen?« Am nächsten Tag zieht sich die Lehrerin Santoni bequeme Wanderschuhe
an und unternimmt einen Ausflug ins Gebirge. Sie klettert die steilen Pfade
hinauf, über die sie in früheren Zeiten ihre Schulklassen geführt hatte, um
sie mit der Natur vertraut zu machen. Sie steigt zum Gießbach hinunter, der
ihr bekannt ist wegen der Felsen und der Steine, an denen seine rauschenden
Wasser zerstäuben. Sie beobachtet, lächelt und beobachtet aufs neue. Aus einem
Felsen wachsen Almrausch hervor, Maiglöckchen aus einem anderen, aus einem dritten
wilde Alpenveilchen. Direkt aus dem Gestein ohne die Unterstützung von Wurzeln,
wie man leicht feststellen kann, ohne das Beiwerk von Zweigen, Blättern und
so weiter. Die Felsen blühen.
Ja, sie gehen mit vollem Recht ins Pflanzenreich über. »Und wir?« fragt sich
die Lehrerin Santoni bange. »Und wir? Wohin gehen wir? Ich meine uns Menschen,
Frauen inbegriffen natürlich, um die sich die wissenschaftlichen Bezeichnungen
so wenig kümmern...« Die Lehrerin Santoni macht sich Mut und beobachtet sich
selbst, indem sie bei den Fingernägeln anfängt. Und nach allen ihren vorherigen
Beobachtungen und der Hypothese, die sich dahinter gebildet hat, überrascht
es sie keineswegs, als sie entdeckt, daß sich einer ihrer Fingernägel von einem
in Mineralogie nicht unerfahrenen Auge wie dem ihren mit einem Blick beschreiben
und klassifizieren laßt: und zwar als reiner achtflächiger Blutstein. Und der
nächste Fingernagel besteht ohne Zweifel aus dem Edelserpentin der Piemontesischen
Alpen. Und der Nagel des Ringfingers ist eindeutig aus rotem Jaspis mit Quarzspuren,
während der Nagel des kleinen Fingers auf den ersten Blick wie Turmalin aussieht.
»Ich bin im Begriff«, schließt die Lehrerin Santoni, »mich in Mineralien zu
verwandeln, -wie es zu erwarten war. Und es soll
mich nicht wundern, wenn ich morgen oder in einer Woche entdecke, daß ich einen
Fuß aus apuanischem Onyx habe und den anderen aus Glimmer. Wahrscheinlich bilden
sich schon jetzt Azurite und Malachite in meinen Knochen. Vielleicht auch Rubine.
Vielleicht Berylle, Aquamarine und Smaragde.« - Gianni Rodari, Das fabelhafte Telefon. Wahre Lügengeschichten. Berlin
1997 (Wagenbach Salto 65, zuerst 1962)
"Verschiebung"
- Hans Bellmer, nach: Wieland Schmied, Zweihundert Jahre
phantastische Malerei. München 1980
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