errückung  Man erlaube  mir, dasjenige, was Cartesius annahm und die mehresten Philosophen nach ihm billigten, zum Grunde zu legen: nämlich, daß alle Vorstellungen der Einbildungskraft zugleich mit gewissen Bewegungen in dem Nervengewebe oder Nervengeiste des Gehirnes begleitet sind, welche man ideas materiales nennt, d. i. vielleicht mit der Erschütterung oder Bebung des feinen Elements, welches von ihnen abgesondert wird, und die derjenigen Bewegung ähnlich ist, welche der sinnliche Eindruck machen könnte, wovon er die Kopie ist. Nun verlange ich aber, mir einzuräumen: daß der vornehmste Unterscheid der Nervenbewegung in den Phantasien von der in der Empfindung darin bestehe, daß die Richtungslinien der Bewegung bei jenem' sich innerhalb dem Gehirne, bei diesem' aber außerhalb schneiden; daher, weil der focus imaginarius, darin das Objekt vorgestellt wird, bei den klaren Empfindungen des Wachens außer mir, der von den Phantasien aber, die ich zu der Zeit etwa habe, in mir gesetzt wird, ich, so lange ich wache, nicht fehlen kann, die Einbildungen als meine eigene Hirngespinste von dem Eindruck der Sinne zu unterscheiden.

Wenn man dieses einräumt, so dünkt mich, daß ich über diejenige Art von Störung des Gemüts, die man den Wahnsinn und im hohem Grade die Verrückung nennt, etwas Begreifliches zur Ursache anführen könne. Das Eigentümliche dieser Krankheit bestehet darin: daß der verworrene Mensch bloße Gegenstände seiner Einbildung außer sich versetzt, und als wirklich vor ihm gegenwärtige Dinge ansieht. Nun habe ich gesagt: daß nach der gewöhnlichen Ordnung die Direktionslinien der Bewegung, die in dem Gehirne als materielle Hülfsmittel die Phantasie begleiten, sich innerhalb demselben durchschneiden müssen, und mithin der Ort, darin er sich seines Bildes bewußt ist, zur Zeit des Wachens in ihm selbst gedacht werde. Wenn ich also setze: daß, durch irgend einen Zufall oder Krankheit, gewisse Organen des Gehirnes so verzogen und aus ihrem gehörigem Gleichgewicht gebracht sein, daß die Bewegung der Nerven, die mit einigen Phantasien harmonisch beben, nach solchen Richtungslinien geschieht, welche fortgezogen sich außerhalb dem Gehirne durchkreuzen würden, so ist der focus imaginarius außerhalb dem denkendes* Subjekt gesetzt, und das Bild, welches ein Werk der  bloßen Einbildung ist, wird als ein Gegenstand vorgestellt, der den äußeren Sinnen gegenwärtig wäre. Die Bestürzung über die vermeinte Erscheinung einer Sache, die nach der natürlichen Ordnung nicht zugegen sein sollte, wird, obschon auch anfangs ein solches Schattenbild der Phantasie nur schwach wäre, bald die Aufmerksamkeit  rege machen, und der Scheinempfindung eine so große Lebhaftigkeit geben, die den betrogenen Menschen an der Wahrhaftigkeit nicht zweifeln läßt. Dieser Betrug kann einen jeden äußeren Sinn betreffen, denn von jeglichem haben wir kopierte Bilder in der Einbildung, und die Verrückung des Nervengewebes kann die Ursache werden, den focum imaginarium dahin zu versetzen, von wo der sinnliche Eindruck eines wirklich vorhandenen körperlichen Gegenstandes kommen würde. Es ist alsdenn kein Wunder, wenn der Phantast manches sehr deutlich zu sehen oder zu hören glaubt, was niemand außer ihm wahrnimmt, imglei-chen wenn diese Hirngespenster ihm erscheinen und plötzlich verschwinden, oder, indem sie etwa einem Sinne, z. E. dem Gesichte vorgaukeln, durch keinen andern, wie z. E. das Gefühl können empfunden werden, und daher durchdringlich scheinen. Die gemeine Geistererzählungen laufen so sehr auf dergleichen Bestimmungen hinaus, daß sie den Verdacht ungemein rechtfertigen, sie könnten wohl aus einer solchen Quelle entsprungen sein. Und so ist auch der gangbare Begriff von geistigen Wesen, den wir oben aus  dem gemeinen Redegebrauche herauswickelten, dieser Täuschung sehr gemäß, und verleugnet seinen Ursprung nicht; weil die Eigenschaft einer durchdringlichen Gegenwart im Räume das wesentliche Merkmal dieses Begriffes ausmachen soll.

* Man könnte, als eine entfernte Ähnlichkeit mit dem angeführter Zufalle, die Beschaffenheit der Trunkenen anführen, die in diesem Zustande mit beiden Augen doppelt sehen; darum, weil durch die Anschwellung der Blutgefäße eine Hindernis entspringt, die Augenachse so zu richten, daß ihre verlängerte Linien sich im Punkte, worin das Objekt ist, schneiden. Eben so mag die Verziehung der Hirngefäße, die vielleicht nur vorübergehend ist, und so lange sie dauert nur einige Nerven betrifft, dazu dienen, daß gewisse Bilder der Phantasie selbst im Wachen als außer uns erscheinen. Eine sehr gemeine Erfahrung kam mit dieser Täuschung verglichen werden. Wenn man nach vollbrachtem Schlafe mit einer Gemächlichkeit, die einem Schlummer nahe kommt und gleichsam mit gebrochnen Augen die mancherlei Fäden der Bettvorhänge oder des Bezuges oder die kleinen Flecken einer nahen Wand ansieht, so macht man sich daraus leichtlich Figuren von Menschengesichtern und dergleichen. Das Blendwerk hört auf, so bald man will und die Aufmerksamkeit anstrengt. Hier ist die Versetzung des foci  imaginarii der Phantasie der Willkür einigermaßen unterworfen, da sie bei der Verrückung durch keine Willkür kann gehindert werden.

- Immanuel Kant, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766)

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