(keu)
Verrat (2) Die Einstellung der einzelnen Völker
zum Verrat ist verschieden, und entsprechend auch ihre Gesetzgebung und
Rechtspraxis. In England gilt der Verrat als das schlimmste aller Verbrechen,
in Frankreich dagegen der Vatermord. In Frankreich
wird das Amtsvergehen des Präsidenten der Republik als ‹Crime de haute
Trahison› bezeichnet. In England existiert der Beigriff des ‹High Treason›
seit 1351. Hochverrat wird dort von dem begangen, der dem König, seinen
Familienmitgliedern oder Ratgebern nach dem Leben trachtet, und von dem,
der gegen den König Krieg führt oder des Königs Feinde unterstützt. Bis
1832 fielen darunter auch Münzvergehen sowie Mord
an Lehrherren und Ehemännern. - (
bov
)
Verrat (3) Als er seine Leute fortgeschickt
hatte, damit sie die Nebengebäude durchsuchten, küßte
er Madame Haudouin auf den Mund und drängte sie ins Schlafzimmer
hinein. Sie war bereits ganz verwirrt von diesem jugendlich feurigen Kuß, den
zu erhoffen ihr Alter und auch Wohlanständigkeit untersagten, aber die Angst,
die sie beim Gedanken, ihr Sohn sei im gleichen Zimmer, befiel, vergällte ihr
jeden Genuß an diesem ersten Kitzel. Sie schloß die
Augen, als sie sich aufs Bett hinlegte, schlug sie dann aber wieder auf, als sie
merkte, wie ungeschickt sich der Soldat anstellte. Die Zeit drängte, denn sie
konnten überrascht werden. Sie wollte ihm helfen, doch hatte sie in ihrem ganzen
Eheleben nur recht wenig nutzbringende Erfahrung erworben. Es ließ sich an wie
eine Neuentdeckung, die sie gemeinsam und einhellig anstrebten, und dann und
wann lächelten sie einander zu und baten sich ihre gegenseitigen Ungeschicklichkeiten
ab. Ohne es eigentlich zu wollen, stillte Madame Haudouin eine Neugier, die
ihres Gatten eigennützige nächtliche Vergnügungen bisher unbefriedigt gelassen
hatten. Nachdem sie den Soldaten auf den rechten Weg geleitet und am gottgewollten
Ort untergebracht hatte, spürte sie in ihrem schlummernden Fleisch ein verheißungsvolles,
süßes, sehnendes Prickeln. Noch war sie befangen und wie gelähmt, das schlechte
Gewissen plagte sie, doch als ihr Peiniger Anstalten machte, sich wegzuheben,
hielt sie ihn unwillkürlich heftig umfaßt und zog sein Gesicht zu dem ihren
herab. Als sie ihn dann, voll Scham über ihr Gewährenlassen, von sich stoßen
wollte, umfing sie der liebeshungrige Bayer ein zweites Mal. Diesmal verklärte
ein dankbares und mitschuldbewußtes Lächeln ihr Gesicht;
ihren trägen, vom Alter abgestumpften Leib durchzuckte ein jähes, fast schmerzhaftes
Wollustgefühl, und sie erstickte mit Müh und Not einen
langgezogenen Schrei, mit dem sich ihr Staunen und
ihre Überwältigung Luft machen wollte. Der Bayer fuhr plötzlich auf und stieg
vom Bett herunter; offenbar hatte er Angst, er habe sich zu lange versäumt.
Während er seine Uniform wieder zuknöpfte und in Ordnung brachte, reichte er
seinem Opfer die Hand und wollte der Frau beim Aufstehen behilflich sein. Da
sah der junge Soldat erst, daß sie eine ältliche Frau war und daß er um einer
alten Brust willen Verrat geübt hatte. Ein wehes Lächeln trat auf seine Lippen
beim Gedanken, er werde nun ohne jedes stolze Hochgefühl in den Tod gehen müssen.
- Marcel Aymé, Die grüne Stute. Reinbek bei Hamburg 1964 (rororo
402, zuerst 1932)
- Martin Walser, Brandung. Frankfurt am Main 1987