erpflichtung   Die Frage »darf man« empfand Krimhild nach vierundzwanzigjähriger Ehe mit einem Krüppel als hinfällig. Ein Mensch darf alles, wenn er die Umstände heherrscht und die Ausdehnung der Schuld unterbindet. Es gibt sozusagen, sagte Krimhild, keine praktische Anwendbarkeit des Schuldbegriffs in der Intimsphäre, weil die Kontrolle, die ein Mensch hinter verschlossenen Türen allein ausübt, dieses große Wort schrumpfen läßt. Was soll ich tun, fragt Krimhild ihre Freundin Frida. Er kann zwei Finger noch eine Zeitlang bewegen, aber nur mit Hilfe eines Apparats, der nach digitalem Muster in Ja-Nein-Antworten (oi/oz) rhythmisiert. Das pocht direkt auf meine Klitoris (oder, wenn ich ihn belehre, etwas seitlich, sieben Mikrozentimeter, das wäre eher gut, aber über die Jahre ist auch das der falsche Platz). Lust oder schweifende Phantasie entsteht so nicht.

So habe ich, sagt Krimhild, diesen berühmten Körper über zwanzig Jahre verwaltet (»ich hab's getragen sieben Jahr«). Eine Kinderseele, ein Jahrhundertge-nie, eine vorteilhafte Partie, ein Vertragsschluß (ICH, 18 Jahre, vor Ausbruch seiner Krankheit). Ein verpacktes Geschenk, das ich erst später auszuwickeln lernte. Gelehrte haben mir bestätigt, daß ich mit einem Krüppel dieser Art nicht rechnen mußte, »durch alle Gefahren hindurch an seiner Seite«. Ich fütterte ihn, ich bekinderte ihn. Zuletzt wollte er nur noch an den Schultern gekrault, in der Pofalte betastet werden, und zwar immer samstags, nachdem er seine Forschungsarbeiten oder Diktate erledigt hatte. Die untätigen Samstage waren ihm ein Grauen.

Wir einigten uns, daß ich Guideon als Liebhaher erwählte. Aber was ist das: ein verordneter, gestatteter Liebhaber? Sonst aber keiner? Ich durfte nur diesen zuverlässigen Mann zu meiner körperlichen Befriedigung nutzen. Was heißt körperlich? Was wußte der berühmte Naturforscher von »nutzen«? So kann kein Mensch auf Dauer leben. Es hat sich eine negative Energie angehäuft, eine Abwehrkraft. Ich beherrsche sie nicht, sie »nutzt« mich. Nemo ultra posse obligatur. Das habe ich in meinen Forschungen über hochmittelalterliche spanische Texte in Toledo als Zitat in arabischer Übersetzung wiedergefunden. Für Texte interessiert sich mein Krüppel nicht.*

* Nemo ultra posse obligatur = anerkannter Rechtssatz des römischen Juristen Ulpian. Niemand ist verpflichtet über das hinaus, was er vermag. Der Jurist Ulpian befaßt sich, wie er es nennt, mit den GRENZFLÜSSEN. Die Zeit hat ein Ende, das Eigentum eine Grenze, der subjektive Wert eine Anwendbarkeitsgrenze, die Anwendbarkeit auf konkrete Menschen eine Intoleranzgrenze. Daraus leitet Ulpian seine Rechtssätze ab.  - (klu)

 

Versprechen Pflicht

 

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