Vernunftformen   Ich will erklären, daß der fundamentalen Einteilung des Lebens in Pflanzen und Tiere innerhalb der toposophischen Evolution die Einteilung in lokale und nichtlokale Formen der Vernunft entspricht. Über die ersteren werde ich euch glücklicherweise ein wenig kundtun können - glücklicherweise, denn gerade dieser Zweig nimmt den steilsten Weg durch die weiteren Wachstumszonen. Die nichtlokalen Formen dagegen, die wegen ihres Umfangs als Leviathan bezeichnet zu werden verdienen, sind gerade wegen dieser ungeheuren Größe unfaßbar. Eine Form von Vernunft sind sie lediglich in dem Sinne, in dem die Biosphäre Leben ist; es kann sehr gut sein, daß ihr sie seit Jahren erblickt, daß ihr ihre Abbilder en face und im Profil in euren Sternatlanten verewigt habt, aber ihre vernünftige Natur nicht erkennt, was ich an einem primitiven Beispiel veranschaulichen will. Wenn wir unter der Vernunft das intelligente Pendant des Gehirns verstehen, so werden wir als nebulares Gehirn nicht eine Nebelwolke bezeichnen, die im Laufe von Jahrmillionen durch absichtliche Einwirkungen eines n-zonalen Wesens in ihrer Feinstruktur umorganisiert wurde, denn ein System, das sich über Tausende von Lichtjahren erstreckt, kann kein effektiv denkendes System sein: Ein Nachrichtenimpuls würde ja, um es zu durchlaufen, Jahrhunderte auf Jahrhunderte benötigen. Dieses nebelhafte Objekt könnte sich jedoch in einem gewissermaßen unfertigen oder halbwegs natürlichen Zustand befinden, den das besagte Wesen für irgend etwas benötigt, für das es weder in eurer noch in meiner Begriffswelt eine Entsprechung gibt. Ich muß lachen, wenn ich sehe, wie ihr auf diese Worte reagiert: Nichts wünscht ihr euch so sehr, wie in Erfahrung zu bringen, was ihr nicht erfahren könnt! Wieso aber sollte ich euch - und vielleicht auch mich selbst - täuschen, indem ich Märchen erzähle von einem filamentösen Nebel, der gestimmt ist auf den gravitationalen Kammerton, mit dem ein Dirigent, ein Doctor Caelestis, der gesamten Metagalaxie den Ton angeben will? Vielleicht möchte er aber auch ein Stück Welt, zu dem er geworden ist, nicht zu einem Instrument der Sphärenharmonie machen, sondern zu einer Presse, um aus der Materie bestimmte, ihr bisher noch nicht abgenötigte Geständnisse herauszupressen? Wir werden nicht hinter seine Absichten kommen. Es gibt Nebel - besonders unter den filamentösen -, die auf dem Foto eine gewisse Ähnlichkeit mit trillionenfach vergrößerten Gewebsbildern der Hirnrinde zeigen, doch besagt diese Ähnlichkeit nichts, und es kann durchaus sein, daß diese Nebel psychisch vollkommen tot sind. Ein irdischer Beobachter kann in dem Nebel Maser- und Synchrotronstrahlen feststellen, aber das bringt ihn auch nicht weiter. Besteht etwa irgend eine Ähnlichkeit zwischen den Zerebrociden und Glycerophosphaten auf der einen und dem Inhalt eurer Gedanken auf der anderen Seite? Eine solche Ähnlichkeit gibt es ebensowenig wie zwischen der Strahlung der Nebel und dem, was sie denken, falls sie denken. Die Vorstellung, man könne Anzeichen einer Vernunft im Kosmos an ihrem physikalischen Bild erkennen, ist eine kindische idée fixe, eine fallacia cognitiva, vor der ich euch entschieden warne. Kein Beobachter ist imstande, Erscheinungen, die in nichts den ihm bekannten Phänomenen ähneln, als vernünftig oder durch eine Vernunft bewirkt zu identifizieren. Der Kosmos ist für mich keine Galerie von Familienporträts, sondern eine Karte der noosphärischen Nischen, in welche die Quellen der Energie und die Gradienten ihres günstigen Flusses eingezeichnet sind. Ein Traktat über Vernunftformen, die es als Kraftwerke zu lokalisieren gilt, mag für die Philosophen ein Ärgernis sein, denn verteidigen sie nicht seit tausend Jahren das Reich der reinen Abstraktionen gegen den Einbruch solcher Argumente? Aber was bedeutet das schon, wenn wir - ich und ihr - im Vergleich zu den großen Köpfen der höheren Zonen wie schlaue Bakterien im Blut des Philosophen sind, die zwar weder ihn noch gar seine Gedanken sehen, deren Wissen aber, das sie über die Veränderungen seines Gewebes sammeln, nicht unnütz sein wird, denn letzten Endes lesen sie aus dem Verfall des Körpers dessen Sterblichkeit ab.

Wohl seid ihr so weit erwachsen, um nach anderen Vernunftformen im Kosmos zu fragen, aber noch nicht erwachsen genug für die Antwort, denn als Nachbarn im Weltraum könnt ihr euch nur eine Zivilisationsgemeinschaft vorstellen, und so wird euch denn auch nicht der bündige Bescheid zufriedenstellen, daß interstellare Kontakte und außerirdische Zivilisationen zwei verschiedene Themen sind, weil die Kontakte, wenn es zu ihnen kommt, durchaus nicht Kontakte mit einer Zivilisation sein müssen, das heißt mit einer Gemeinschaft von biologischen Wesen. Ich sage nicht, daß es solche nirgendwo gibt, sondern nur, daß sie, falls sie existieren, innerhalb des kosmischen Psychozoikums eine »Dritte Welt« darstellen, weil Verständigungsbemühungen, die eine über mehrere Generationen hinwegreichende Ausdauer erfordern, durch die Labilität eines gesellschaftlichen Verbandes gefährdet sind. Gespräche, bei denen zwischen Frage und Antwort Jahrhunderte verstreichen, können für kurzlebige Geschöpfe keine bedeutende Aufgabe sein. Aber selbst bei einer erheblichen psychozoischen Dichte der stellaren Umgebung der Erde können benachbarte Wesen sich so sehr voneinander unterscheiden, daß der Versuch, untereinander Kontakt aufzunehmen, scheitern muß.  - Stanislaw Lem, Also sprach GOLEM. Frankfurt am Main 1986 (zuerst 1973)

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