erlust  Gerade ist mir etwas - so denke ich jedenfalls - unbedingt Aufzuzeichnendes, indem ich es nicht sofort festhielt, unwiederbringlich ins Leere entwischt, und ich weiß jetzt, daß es ein Atom war, ein Innen-Atom eines Menschenlebens, etwas ganz und gar Materielles, das nun ins Nichts entschwirrt ist: Verlustempfindung. Es ist ein Verlust, eine Frucht ist mir entfallen. - Nein, das Atom ist nicht ins Nichts, nicht ins Leere entschwunden, sondern in mich. - Warum weiß ich aber trotzdem, daß es, wenn ich es nicht augenblicklich wiederfinde, für immer verloren ist? - Und was kann ich von jenem Atom sagen? - Es war etwas, ein Körper, ein Einschluß, ein Schatz, eine Kostbarkeit, eine Köstlichkeit, eine Form (so wie Vergil für Dante auf dessen Abstieg ins Inferno eine Form war) - (bleist)

Verlust (2)  In seinem tauenden, immer noch halbtoten, greulich mißhandelten Mund wurde langsam das Eis und Holz des Betäubungsmittels von einem warmen Schmerzstrom verdrängt. Danach trauerte er mehrere Tage lang um einen tief vertrauten Teil seiner selbst. Mit Überraschung wurde ihm klar, wie sehr er an seinen Zähnen gehangen hatte. Seine Zunge, eine fette, glatte Robbe, war immer so glücklich zwischen den vertrauten Klippen umhergesprungen und -geglitten, hatte die Umrisse eines lädierten, aber immer noch sicheren Königreiches kontrolliert, war von jener Grotte in diese Grube getaucht, hatte jene Klippe erklommen, in dieser Kluft gestöbert, eine Faser süßen Seetangs in demselben alten Spalt aufgespürt; doch jetzt war keine einzige Geländemarke verblieben, und alles war nur noch eine große, dunkle Wunde, eine terra ineognita aus Zahnfleisch, deren Erkundung einem Schrecken und Abscheu verboten. Und als die Gebißplatten hineingerammt wurden, war es, als würde ein armer fossiler Schädel mit den grinsenden Kiefern eines vollkommen Fremden versehen.  - Vladimir Nabokov, Pnin. Reinbek bei Hamburg 2004 (zuerst 1957)

Verlust (3)  Es sind Sternhaufen entdeckt, die nur auf der photographischen Platte, nicht aber auf der Netzhaut unsres Auges sichtbar geworden sind. Wir haben damit Dinge entdeckt im Universum, die für unser menschliches Auge einfach nicht sichtbar werden können.

Welche seltsamen Welten mögen das sein! Sie sind da, und wir sehen sie gar nicht mit unsern Augen. Wenn mir jemals etwas unheimlich vorgekommen ist, so ist es dieses Ultraviolett-Phänomen.

Natürlich - die Geschichte liegt wieder im ultraviolett, das für die Augen der Ameisen bekanntlich bemerkbar, nicht aber für die menschlichen Augen zu empfinden ist; die Ameisen schützen ihre Eier vor den Lichtstrahlen, setzt man die Eier nun den ultravioletten Strahlen aus, so beeifern sich die Ameisen sofort, die belichteten ins Dunkel zu bringen, und zeigen damit, daß sie die ultravioletten Strahlen noch als »Licht« empfinden.

Wir sind also in der Lage, das Unsichtbare bereits als ein Reales anzusprechen. So ungefähr könnte man sagen.

Nun wird man besonders lebhaft fragen: gibt es nicht auf Stern Erde auch Dinge, die da sind, ohne daß sie menschlichen Augen sichtbar werden?

Ja - das könnte man wohl bejahen. Es könnte sehr wohl viele derart für uns unsichtbare Dinge geben?

Geben wir das jedoch zu, so sind wir auch berechtigt, anzunehmen, daß wir von ganz anders geformten, für uns unsichtbaren Welt- und Lebensverhältnissen umgeben sind, die uns nicht berühren - und die wir auch nicht berühren können; die Organe zur gegenseitigen Bemerkung sind eben nicht da.

Diese Schlußfolgerungen sind keineswegs phantastisch; ich bin sogar der Meinung, daß sie von zwingender Logik sind.

Was fern im Weltenraum möglich ist - das ist auch hier auf der Erde möglich.

Es wäre somit recht interessant, wenn nach dieser Richtung hin einige Experimente gemacht würden; vielleicht rühren sie uns weiter als der ganze Spiritismus, dem es doch immer noch nicht gelungen ist - trotz aller Gegenrede - mit okkulten Tatsachen aufzuwarten.

Eine okkulte Tatsache ist es aber, wenn auf der photographischen Platte Nebelflecke wie der Nordamerika-Nebel erscheinen, die für unser menschliches Auge nicht sichtbar gemacht werden können.

Es ist sehr schwierig, eine derart turbulent wirkende Tatsache ganz kühl zu betrachten - und alle sich zwingend aufdrängenden Schlußfolgerungen einstweilen beiseite zu lassen. Leider leben wir in einer Zeit, in der das Wunderbare gar keinen Eindruck zu machen scheint; der, Nordamerika-Nebel wurde schon 1891 entdeckt. Es ist so, als wenn den Menschen das Organ für das Wunderbare abhanden gekommen wäre. - Paul Scheerbart, Gesammelte Werke Bd. 10.2.  Bellheim 1996 (zuerst 1911)

Verlust (4)  Herr von Voltaire, der merkte, wie die Religion alle Tage an Kraft verlor, sagte einmal: »Das ist doch verdrießlich, denn worüber sollen wir uns nun lustig machen?« - »Oh«, sagte ihm Herr Sabatier de Castres, »trösten Sie sich; an Gelegenheit und Mitteln wird es Ihnen nicht fehlen.« - »Mein Herr«, sagte Voltaire schmerzbewegt, »kein Heil außerhalb der Kirche.«  - Chamfort, nach (enc)

Verlust (5)  Warum wäre der Tod eines Philisters und gemeiner Seele bedeutender als sein Leben? Er war lauter zäher matter Willen zum Leben. Das endet: was ist da mehr? wo Teufel soll seine Verklärung herkommen? - Schopenhauer, nach: Das Tintenfaß 4. Zürich 1981

Verlust (6) Sein Werk hat nicht die Einfachheit und die Zwangsläufigkeit von mathematischer Arbeit höchsten Ranges; es wäre größer, wäre es weniger exotisch. Er hat eine Gabe, die niemand ihm absprechen kann: tiefe und unbesiegbare Originalität. Er wäre vermutlich ein größerer Mathematiker geworden, wäre er in seiner Jugend an die Hand genommen und etwas gezähmt worden: Er hätte mehr Neues entdeckt und ohne Zweifel Wichtigeres. Andererseits wäre er weniger er selbst, Ramanujan, gewesen, sondern eher ein europäischer Professor, und der Verlust wäre vielleicht größer gewesen als der Gewinn. - Prof. E.G. Hardy, nach (hof)

Verlust (7)  Zu ihrem zwanzigsten Geburtstag schenkte jemand Camila Ersky einen goldenen Armreif mit einer Rose aus Rubin. Ein Familienerbstück. Der Reif gefiel ihr, und sie streifte ihn nur zu bestimmten Anlässen über: Wenn sie zu einem geselligen Abend oder ins Theater zu einer Galavorstellung ging. Trotzdem trauerte sie nicht, als sie ihn verlor, wie der Rest der Familie. Dinge konnten noch so kostbar sein, ihr schienen sie ersetzlich. Sie schätzte nur die Menschen, die Kanarienvögel, die ihre Wohnung zierten, und die Hunde. In ihrem ganzen Leben weinte sie, glaube ich, nur einmal: Als eine Silberkette verschwand, an der ein goldgefaßtes Medaillon mit der Madonna von Luján hing. Einer ihrer Verlobten hatte es ihr geschenkt. Der Gedanke, daß Dinge verlorengehen, daß wir die Dinge eben nach und nach unvermeidlich verlieren, schmerzte sie nicht wie den Rest ihrer Familie oder ihre Freundinnen, die allesamt so eitel waren. Tränenlos hatte sie zugesehen, wie ihr Vaterhaus zweimal — das erste Mal durch Feuer, das zweite Mal durch Verarmung, die wie Feuer brannte — seiner wertvollsten Stücke beraubt wurde, seiner Bilder, Tische, Konsolen, Paravents, Bronzefiguren, seiner Fächer, Marmorputten, Porzeltantänzerinnen, radieschenrunden Parfumfläschchen, ganzer Vitrinen voller gelockter und bärtiger Nippesfigürchen, die zuweilen abscheulich, aber wertvoll waren. Ich vermute, Camilas Gelassenheit war kein Zeichen von Gleichgültigkeit, sondern ihr war durchaus unwohl bei der Ahnung, daß sie mit den Dingen eines Tages etwas Kostbares aus ihrer Jugend einbüßen würde. Vielleicht gefielen die Dinge ihr sogar mehr als anderen Menschen, die ihren Verlust beweinten. Manchmal hatte sie auch Gesichte. Die Dinge kamen sie besuchen wie Menschen in Prozessionen, vor allem nachts, wenn sie kurz vorm Einschlafen war. - Silvina Ocampo, Die Dinge. In: Argentinische Erzählungen. Stuttgart 1984 (Bibliothek von Babel, Bd.2, Hg. Jorge Luis Borges)

Verlust (8)  Andrej Andrejewitsch Mjassow kaufte auf dem Markt einen Lampendocht und trug ihn nach Hause.

Unterwegs verlor Andrej Andrejewitsch den Lampendocht und ging in ein Geschäft hundertfünfzig Gramm Jagdwurst kaufen. Dann ging
Andrej Andrejewitsch zum Milchladen und kaufte eine Flasche Kefir, dann trank er an einem Stand ein kleines Glas Brotkwas und stellte sich nach einer Zeitung an. Die Schlange war ziemlich lang, und Andrej Andrejewitsch wartete mindestens zwanzig Minuten. Als er aber an die Reihe kam, wurde ihm vor der Nase die letzte Zeitung weggekauft.

Andrej Andrejewitsch stand eine Weile da, dann machte er sich auf den Heimweg, aber unterwegs verlor er den Kefir und ging zum Brotladen ein kleines Weißbrot kaufen, dabei verlor er die Jagdwurst.

Nun ging Andrej Andrejewitsch stracks nach Hause, unterwegs aber stürzte er, verlor das Weißbrot und zerschlug sich den Kneifer.
Wutentbrannt kam Andrej Andrejewitsch nach Hause und legte sich sofort schlafen, konnte aber lange nicht einschlafen. Als er dann eingeschlafen war, träumte er, er hatte seine Zahnbürste verloren und putzte sich die Zähne mit einem Kerzenhalter. - (charms)


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