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(
bleist
)
Verlust (2) In seinem tauenden, immer
noch halbtoten, greulich mißhandelten Mund wurde
langsam das Eis und Holz des Betäubungsmittels von einem warmen Schmerzstrom
verdrängt. Danach trauerte er mehrere Tage lang um einen tief vertrauten
Teil seiner selbst. Mit Überraschung wurde ihm klar, wie sehr er an seinen
Zähnen gehangen hatte. Seine Zunge,
eine fette, glatte Robbe, war immer so glücklich zwischen den vertrauten
Klippen umhergesprungen und -geglitten, hatte die Umrisse eines lädierten,
aber immer noch sicheren Königreiches kontrolliert, war von jener Grotte
in diese Grube getaucht, hatte jene Klippe erklommen, in dieser Kluft gestöbert,
eine Faser süßen Seetangs in demselben alten Spalt aufgespürt; doch jetzt
war keine einzige Geländemarke verblieben, und alles war nur noch eine
große, dunkle Wunde, eine terra ineognita aus Zahnfleisch, deren Erkundung
einem Schrecken und Abscheu verboten. Und als die Gebißplatten hineingerammt
wurden, war es, als würde ein armer fossiler Schädel mit den grinsenden
Kiefern eines vollkommen Fremden versehen. - Vladimir Nabokov,
Pnin. Reinbek bei Hamburg 2004 (zuerst 1957)
Verlust (3) Es sind Sternhaufen entdeckt, die nur auf der photographischen Platte, nicht aber auf der Netzhaut unsres Auges sichtbar geworden sind. Wir haben damit Dinge entdeckt im Universum, die für unser menschliches Auge einfach nicht sichtbar werden können.
Welche seltsamen Welten mögen das sein! Sie sind da, und wir sehen sie gar nicht mit unsern Augen. Wenn mir jemals etwas unheimlich vorgekommen ist, so ist es dieses Ultraviolett-Phänomen.
Natürlich - die Geschichte liegt wieder im ultraviolett, das für die Augen der Ameisen bekanntlich bemerkbar, nicht aber für die menschlichen Augen zu empfinden ist; die Ameisen schützen ihre Eier vor den Lichtstrahlen, setzt man die Eier nun den ultravioletten Strahlen aus, so beeifern sich die Ameisen sofort, die belichteten ins Dunkel zu bringen, und zeigen damit, daß sie die ultravioletten Strahlen noch als »Licht« empfinden.
Wir sind also in der Lage, das Unsichtbare bereits als ein Reales anzusprechen. So ungefähr könnte man sagen.
Nun wird man besonders lebhaft fragen: gibt es nicht auf Stern Erde auch Dinge, die da sind, ohne daß sie menschlichen Augen sichtbar werden?
Ja - das könnte man wohl bejahen. Es könnte sehr wohl viele derart für uns unsichtbare Dinge geben?
Geben wir das jedoch zu, so sind wir auch berechtigt, anzunehmen, daß wir von ganz anders geformten, für uns unsichtbaren Welt- und Lebensverhältnissen umgeben sind, die uns nicht berühren - und die wir auch nicht berühren können; die Organe zur gegenseitigen Bemerkung sind eben nicht da.
Diese Schlußfolgerungen sind keineswegs phantastisch; ich bin sogar der Meinung, daß sie von zwingender Logik sind.
Was fern im Weltenraum möglich ist - das ist auch hier auf der Erde möglich.
Es wäre somit recht interessant, wenn nach dieser Richtung hin einige Experimente gemacht würden; vielleicht rühren sie uns weiter als der ganze Spiritismus, dem es doch immer noch nicht gelungen ist - trotz aller Gegenrede - mit okkulten Tatsachen aufzuwarten.
Eine okkulte Tatsache ist es aber, wenn auf der photographischen Platte Nebelflecke wie der Nordamerika-Nebel erscheinen, die für unser menschliches Auge nicht sichtbar gemacht werden können.
Es ist sehr schwierig, eine derart turbulent wirkende Tatsache ganz
kühl zu betrachten - und alle sich zwingend aufdrängenden Schlußfolgerungen
einstweilen beiseite zu lassen. Leider leben wir in einer Zeit, in der
das Wunderbare gar keinen Eindruck zu machen scheint; der, Nordamerika-Nebel
wurde schon 1891 entdeckt. Es ist so, als wenn den Menschen das Organ für
das Wunderbare abhanden gekommen wäre. - Paul Scheerbart, Gesammelte
Werke Bd. 10.2. Bellheim 1996 (zuerst 1911)
Verlust (4) Herr von Voltaire,
der merkte, wie die Religion alle Tage an Kraft
verlor, sagte einmal: »Das ist doch verdrießlich, denn worüber sollen wir uns
nun lustig machen?« - »Oh«, sagte ihm Herr Sabatier de Castres, »trösten Sie
sich; an Gelegenheit und Mitteln wird es Ihnen nicht fehlen.« - »Mein Herr«,
sagte Voltaire schmerzbewegt, »kein Heil außerhalb der Kirche.« -
Chamfort, nach (
enc
)
Verlust (5) Warum wäre der Tod eines Philisters
und gemeiner Seele bedeutender als sein Leben? Er war lauter zäher matter Willen
zum Leben. Das endet: was ist da mehr? wo Teufel soll seine Verklärung herkommen?
- Schopenhauer, nach: Das Tintenfaß 4. Zürich
1981
Verlust (6) Sein Werk hat nicht die Einfachheit
und die Zwangsläufigkeit von mathematischer Arbeit höchsten Ranges; es wäre
größer, wäre es weniger exotisch. Er hat eine Gabe, die niemand ihm absprechen
kann: tiefe und unbesiegbare Originalität. Er wäre vermutlich ein größerer Mathematiker
geworden, wäre er in seiner Jugend an die Hand genommen und etwas gezähmt worden:
Er hätte mehr Neues entdeckt und ohne Zweifel Wichtigeres. Andererseits wäre
er weniger er selbst, Ramanujan, gewesen, sondern
eher ein europäischer Professor, und der Verlust
wäre vielleicht größer gewesen als der Gewinn. - Prof. E.G. Hardy, nach
(
hof
)
Verlust (7) Zu ihrem zwanzigsten Geburtstag schenkte
jemand Camila Ersky einen goldenen Armreif mit einer Rose aus Rubin. Ein Familienerbstück.
Der Reif gefiel ihr, und sie streifte ihn nur zu bestimmten Anlässen über: Wenn
sie zu einem geselligen Abend oder ins Theater zu einer Galavorstellung ging.
Trotzdem trauerte sie nicht, als sie ihn verlor, wie der Rest der Familie. Dinge
konnten noch so kostbar sein, ihr schienen sie ersetzlich. Sie schätzte nur
die Menschen, die Kanarienvögel, die ihre Wohnung zierten, und die Hunde. In
ihrem ganzen Leben weinte sie, glaube ich, nur einmal: Als eine Silberkette
verschwand, an der ein goldgefaßtes Medaillon mit der Madonna von Luján hing.
Einer ihrer Verlobten hatte es ihr geschenkt. Der Gedanke, daß Dinge verlorengehen,
daß wir die Dinge eben nach und nach unvermeidlich verlieren, schmerzte sie
nicht wie den Rest ihrer Familie oder ihre Freundinnen, die allesamt so eitel
waren. Tränenlos hatte sie zugesehen, wie ihr Vaterhaus zweimal — das erste
Mal durch Feuer, das zweite Mal durch Verarmung, die wie Feuer brannte — seiner
wertvollsten Stücke beraubt wurde, seiner Bilder, Tische, Konsolen, Paravents,
Bronzefiguren, seiner Fächer, Marmorputten, Porzeltantänzerinnen, radieschenrunden
Parfumfläschchen, ganzer Vitrinen voller gelockter und bärtiger Nippesfigürchen,
die zuweilen abscheulich, aber wertvoll waren. Ich vermute, Camilas Gelassenheit
war kein Zeichen von Gleichgültigkeit, sondern ihr war durchaus unwohl bei der
Ahnung, daß sie mit den Dingen eines Tages etwas Kostbares aus ihrer Jugend
einbüßen würde. Vielleicht gefielen die Dinge ihr sogar mehr als anderen Menschen,
die ihren Verlust beweinten. Manchmal hatte sie auch Gesichte. Die Dinge kamen
sie besuchen wie Menschen in Prozessionen, vor allem nachts, wenn sie kurz vorm
Einschlafen war. - Silvina Ocampo, Die Dinge. In: Argentinische Erzählungen.
Stuttgart 1984 (Bibliothek von Babel, Bd.2, Hg. Jorge Luis Borges)
Verlust (8) Andrej Andrejewitsch Mjassow kaufte auf dem Markt einen Lampendocht und trug ihn nach Hause.
Unterwegs verlor Andrej Andrejewitsch den Lampendocht und ging in ein Geschäft hundertfünfzig Gramm Jagdwurst kaufen. Dann ging
Andrej Andrejewitsch zum Milchladen und kaufte eine Flasche Kefir, dann
trank er an einem Stand ein kleines Glas Brotkwas und stellte sich nach
einer Zeitung an. Die Schlange war ziemlich lang, und Andrej
Andrejewitsch wartete mindestens zwanzig Minuten. Als er aber an die
Reihe kam, wurde ihm vor der Nase die letzte Zeitung weggekauft.
Andrej Andrejewitsch stand eine Weile da, dann machte er sich auf den
Heimweg, aber unterwegs verlor er den Kefir und ging zum Brotladen ein
kleines Weißbrot kaufen, dabei verlor er die Jagdwurst.
Nun ging Andrej Andrejewitsch stracks nach Hause, unterwegs aber stürzte er, verlor das Weißbrot und zerschlug sich den Kneifer.
Wutentbrannt kam Andrej Andrejewitsch nach Hause und legte sich sofort
schlafen, konnte aber lange nicht einschlafen. Als er dann eingeschlafen
war, träumte er, er hatte seine Zahnbürste verloren und putzte sich die
Zähne mit einem Kerzenhalter. -
(charms)
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