erlassenheit
Immerhin hatte sie jetzt ein Thema
gefunden, und sie fuhr fort und erzählte mir alles über den Himmel.
Alles was man dort zu tun habe, sagte sie, sei, den lieben langen Tag mit
einer Harfe umherzugehn und zu singen, immer und ewig. Davon hielt ich
nun nicht gerade viel. Aber das sagte ich nicht laut. Ich fragte sie, ob
sie wohl glaube, daß Tom Sawyer dorthin käme, und sie meinte, das sei nicht
sehr wahrscheinlich. Darüber war ich froh, weil ich gern mit ihm zusammensein
wollte. Miß Watson hackte weiter auf mir herum, und es wurde langweilig
und ermüdend. Später holten sie dann die Nigger herein, hielten die Abendandacht,
und dann ging alles zu Bett. Ich stieg mit einem Kerzenstumpf hinauf in
meine Kammer und stellte ihn auf den Tisch. Dann setzte ich mich auf einen
Stuhl am Fenster und versuchte, an etwas Vergnügliches zu denken, aber
es gelang mir nicht. Ich kam mir so verlassen vor, daß ich sehnlichst wünschte,
ich wäre tot. Die Sterne schienen, und die Blätter im Wald rauschten so
traurig; in der Ferne hörte ich eine Eule irgendeinen Toten beklagen, und
ein Ziegenmelker
und ein Hund wehklagten über einen Sterbenden; der
Wind versuchte, mir etwas zuzuflüstern, aber ich
konnte es nicht verstehen, und kalte Schauer rieselten mir über den Rücken.
Dann hörte ich draußen in den Wäldern
jenen besonderen Laut, den ein Geist von sich gibt,
wenn er irgendwas loswerden möchte, was ihn beschwert, und sich doch nicht
verständlich machen kann, so daß er keine Ruhe im Grabe findet und jede
Nacht gepeinigt herumirren muß. Ich wurde so niedergeschlagen und furchtsam,
daß ich wirklich wünschte, ich hätte irgendwen zur Gesellschaft
gehabt. Bald krabbelte mir eine Spinne über die
Schulter, ich schüttelte sie ab, und sie landete in der Kerze; und ehe
ich noch einen Finger rühren konnte, war sie in nichts zusammengeschnurrt.
Ich brauchte keinen, der mir erst hätte sagen müssen, daß das ein verdammt
schlechtes Vorzeichen war, das mir bald irgendein
Unglück bringen würde; so war ich sehr erschrocken und schlotterte am ganzen
Leibe. Ich stand auf und drehte mich dreimal um mich selber, wobei ich
mich jedesmal bekreuzigte; dann band ich mir eine kleine Haarlocke mit
einem Bindfaden zusammen, um die Hexen abzuhalten.
- Mark Twain, Huckleberry Finn.
Frankfurt am Main 1975 (it 126, zuerst 1884)
Verlassenheit (2) Natürlich weiß ich
um die Verlassenheit aller Menschen hinter ihrer lästigen, dummen
Erscheinung: aber ich verlange eine andere Erscheinung,
sofort! - (
bleist
)
Verlassenheit (3) So ein Weinen konnte von noch so weit her kommen: ein jedesmal erhob es sich ihr aus der Nachbarschaft. Und sie hörte es am Tag, auch in den Lärmstunden der Ausfallstraße, genauso klar wie in den lautlos tiefen Nächten. Nicht jedes Weinen kam so nahe, ging so nach: kaum das, und noch so jämmerliche, der Säuglinge, und auch nicht das in der Folge eines Sturzes oder sonst eines körperlichen Mißgeschicks. Es war jenes Weinen, meist tränenlos, der ersten großen und dabei auch schon endgültigen Enttäuschung; gleichmäßige, nicht zu der Brust herausstrebende, sondern in sie eingeschlossene, geradezu ruhige Töne, eine fast schon wieder stillgewordene Mittellage aus Schluchzen, Aufheulen, Gewimmer, Röcheln, Schniefen, über einem tiefen, namenlosen Grundton, und das immer so weiter in einer Endlosschleife, auf der Stelle, hinter den versperrten Läden eines Hauses, hinter einem Gartenbaum, oder irgendwo auf einer Straße, einem Seitenweg, dahinziehend, eine Einpersonenkarawane.
Sie, als Zuhörerin, blieb dann gebannt auf der Stelle und zog zugleich
mit der Karawane draußen mit. Das, was sie da von den Nachbarkindern hörte,
das war der Laut der Verlassenheit. -
Peter Handke, Der Bildverlust. Frankfurt am Main 2002
Verlassenheit (4) Die Wiese
war übersät mit kleinen roten Flecken - den Toten der Septemberkämpfe. An
der abgelegensten Stelle, vor einem Entwässerungsgraben, der von einer
Reihe geköpfter Weiden gesäumt wurde, türmten sich die Leichen zuhauf.
Die armen Kerle waren offenbar von Maschinengewehren niedergemäht worden.
Im Fernrohr sah man, daß sie in einem Stacheldrahtverhau hingen, das man
mit freiem Auge nicht wahrnehmen konnte, so knapp am Boden lief es dahin,
vor einem weißlichen Streifen, der von weitem wie eine Sandgrube aussah.
Man erkannte auch die Reste einer Hütte. Immer starrten ein paar Poilus
auf die verfluchte Wiese hinaus. Es war eklig, die Verlassenheit der Toten
zu betrachten, die auf diesem grünen Plan, mitten in den Tümpeln aus Löwenzahn
und ungestielten Herbstzeitlosen, unter freiem Himmel verfaulten, bespült
und verwaschen vom Herbstregen, von Tag zu Tag mehr zusammenschrumpfend,
indes ihre Kleider sich aufblähten, die krapproten Hosen sich mit weinfarbenem
Wasser füllten. -
(cend)
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