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Verkleinerung (2) »Monsieur Jarry?«
»In der dreieinhalbten.« Diese Auskunft der Concierge verblüffte mich. Ich stieg zu Alfred Jarry hoch, der tatsächlich in der dreieinhalbten Etage wohnte. Da die einzelnen Stockwerke dem Hausbesitzer zu hoch erschienen waren, hatte er sie unterteilt. Das Haus, das noch heute steht, hat auf diese Weise an die fünfzehn Geschosse, ist indessen nicht höher als die anderen Häuser in dem Viertel, ist lediglich ein verkleinerter Wolkenkratzer.
Im übrigen gab es solche Verkleinerungen in Alfred Jarrys Wohnung zu Häuf. Diese dreieinhalbte war nur die Verkleinerung einer Etage, in der der Mieter noch ganz bequem stehen konnte, während ich, der ich größer war als er, mich bücken mußte. Das Bett war nur die Verkleinerung eines Bettes, das heißt eine Pritsche: niedrige Betten seien modern, sagte Jarry zu mir. Der Schreibtisch war nur die Verkleinerung eines Tisches, denn Jarry lag beim Schreiben platt auf dem Fußboden. Das Mobiliar war nur die Verkleinerung eines Mobiliars, das einzig und allein aus besagtem Bett bestand. An der Wand hing die Verkleinerung eines Bildes. Es war das Porträt von Jarry, von dem er das meiste verbrannt und nur den Kopf übriggelassen hatte, der dem Balzacs auf einer bestimmten Lithographie ähnelte, die ich kenne. Die Bibliothekwar nur die Verkleinerung einer Bibliothek, und das ist noch übertrieben. Sie bestand aus einer volkstümlichen Ausgabe von Rabelais und zwei, drei Bänden der Rosa Bibliothek. Auf dem Kamin stand ein großer Phallus aus Stein, eine japanische Arbeit, ein Geschenk von Felicien Rops an Jarry, der das überlebensgroße Kaliber stets mit einem veilchenblauen Samtkäppchen bedeckt hielt, seit dem Tage, an dem der exotische Monolith eine schriftstellernde Dame erschreckt hatte, die vom Ersteigen der dreieinhalb Etagen noch ganz außer Atem und höchst befremdet über die möbellose große Kammer gewesen war.
»Ist das ein Gipsabguß?« hatte die Dame gefragt. »Nein«, antwortete Jarry,
»eine Verkleinerung.« - (
apol
)
Verkleinerung (3) Nicht wenige,
vielleicht die allermeisten Menschen haben, um ihre Selbstachtung
und eine gewisse Tüchtigkeit im Handeln bei sich aufrecht zu erhalten, durchaus
nötig, alle ihnen bekannten Menschen in ihrer Vorstellung herabzusetzen und
zu verkleinern. Da aber die geringen Naturen in der Überzahl sind und es sehr
viel daran liegt, ob sie jene Tüchtigkeit haben oder verlieren, so — - Friedrich Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches
(zuerst 1878)
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