ergeistigung   Unser Europa, ganz an stofflichen Interessen hingegeben, ahnt nicht, bis zu welchem Grad der Vergeistigung die indischen Büßer vorgedrungen sind: gänzliches Fasten, erschreckend anhaltende Versenkung, jahrelanges Innehalten der schwierigsten Stellungen, lassen ihre Körper derart abmagern, daß man meinen möchte, wenn man sie reglos sitzen sieht in der brennendsten Sonnenhitze zwischen glühenden Kohlenbecken, sieht, wie ihre Nägel durch die Handflächen gewachsen sind, sie seien ägyptische Mumien, die ihren Särgen entnommen und in äffische Stellungen verrenkt worden seien; ihre menschenähnliche Hülle ist nichts als eine Puppe, die der unsterbliche Schmetterling Seele nach Wunsch verlassen und wieder beziehen kann. Während ihr verdorrter Leib auf der Erde zurückbleibt, reglos und abscheulich zum Ansehen, wie ein vom Tag überraschtes Nachtgespenst, schwingt sich ihr Geist, aller Bande frei, von geistigen Erfahrungen beflügelt in unerrechenbare Höhen überirdischen Seins. Sie haben Visionen und bedeutungsvolle Träume; von Entrückung zu Entrückung nacherleben sie das Auf und Nieder entschwundener Zeitalter in Ozeanen der Ewigkeit; sie durchschweifen das Unendliche; beiwohnen dem Entstehen der Welten Gottgeburten und Wandlungen; in ihrem Bewußtsein dämmert wieder auf uralte Weisheit, die in Erd- und Meer-Wallungen entschwunden war, vergessener Zusammenhang zwischen dem Menschen und den Elementen. In diesem seltsamen Zustand lispeln sie Worte von Sprachen, die seit Tausenden von Jahren kein Volk mehr spricht auf dem ganzen Erdenrund, das Schöpfungswort wird ihnen offenbar, Schöpfungswort, das aus Urfinsternissen Licht hervorrief.   - Théophile Gautier, Avatar. Frankfurt am Main 1985 (st 1161, zuerst 1856)

Vergeistigung (2)  Die horizontale Lage ist offenbar die günstigste für die Verstandestätigkeit, die Mitteilsamkeit des Geistes, und das ist begreiflich. In dem Kessel unseres Gehirns bilden sich die als »Gedanken« bezeichneten Dämpfe, welche den Zug der menschlichen Dinge in Bewegung setzen und so oft aus dem Geleise bringen; das Blut ist das siedende Wasser, welches sich darin in Dampf verwandelt; das werden Ihnen alle Physiologen sagen. Je leichter nun diese Flüssigkeit zum Kessel strömt, desto mehr Gedanken oder Dämpfe müssen sich naturgemäß daraus entwickeln.

Voltaire war krank und befand sich daher in liegender Stellung, als er Candide schrieb; er erfreute sich dagegen einer blühenden Gesundheit, als er die Henriade in Angriff nahm.

Bernardin de Saint-Pierre hatte, wie man sagt, aus Indien eine Hängematte mitgebracht, in welche er sich gern zum Schreiben hineinlegte; darin erträumte er seine entzückenden Meisterwerke Paul und Virginie und Die indische Hütte. Als er später seine Harmonien der Natur ausarbeitete, in welchen er das Phänomen der Ebbe und Flut durch das Schmelzen des Polareises erklären will, war die Hängematte abgenutzt, und er gebrauchte sie nicht mehr.

J.-J. Rousseau lag seiner ganzen Länge nach unter einem Baum im Walde von Vincennes, als er seine berühmte Prosopopöie Fabricius improvisierte, doch schrieb er sicherlich sein Lustspiel Narziß oder In sich selbst verliebt3 und mehrere Kapitel seines Musikalischen Wörterbuchs4 in aufrechter Stellung. Durch jene berühmten Beispiele und die Wirkungskraft des Mittels gelockt, habe ich oft, wenn ich einen zu großen Mangel an Intelligenz und Vernunft empfand, daran gedacht, mich bei den Füßen aufzuhängen. Nur die Furcht, mich nicht schnell genug wieder losmachen zu können, hat mich davon abgehalten. Ich kenne aber drei oder vier Dummköpfe, bei welchen ich gern diese Methode der Vergeistigung, wenn auch nur während achtundvierzig Stunden, angewandt sehen möchte. - Hector Berlioz, Groteske Musikantengeschichten. Frankfurt am Main 1986 (it 859, zuerst 1859)

Vergeistigung (3)   Als vorzügliches Mittel zur Verinnerlichung gilt die Angewohnheit, die Dinge als Symbole zu betrachten. Wenn der Donner grollt, stelle man sich das Jüngste Gericht vor; angesichts des wolkenlosen Himmels denke man daran, daß dort die Wohnstätte der Seligen ist; beim Spazierengehen sage man sich, daß jeder Schritt dem Tode näher führt. Pécuchet befolgte diese Methode. Wenn er nach seinem Anzug griff, gedachte er der fleischlichen Hülle, mit der sich die zweite Person der Dreifaltigkeit umkleidet hat, das Ticken der Uhr gemahnte ihn an die Schläge seines Herzens, ein Nadelstich an die Nägel des Kreuzes. Doch mochte er auch stundenlang auf den Knien liegen, die Fastenzeit verlängern und seine Einbildungskraft bis zur Erschöpfung anstrengen: die Loslösung vom Ich erfolgte nicht; es war unmöglich, zur vollkommenen Vergeistigung zu gelangen.

Da nahm er seine Zuflucht zu mystischer Literatur: zur heiligen Therese, zu Johannes vom Kreuz, zu Ludwig von Granada und zu neueren Autoren wie Monsignore Chaillot. An Stelle des Erhabenen, das er erwartet hatte, fand er nur Plattheiten, einen höchst nachlässigen Stil, farblose Bilder und eine Menge Vergleiche, aus dem Sprachschatz der Steinmetze.

Immerhin nahm er zur Kenntnis, daß es eine aktive und eine passive Reinigung gibt, ein inneres und ein äußeres Schauen, vier Arten von Gebeten, neun Vollkommenheiten in der Liebe, sechs Stufen der Demut und daß das Verwunden einer Seele sich kaum vom Diebstahl in Gedanken unterscheidet.

Gewisse Punkte brachten ihn in Verlegenheit.

»Wenn das Fleisch verflucht ist, wieso muß man dann Gott danken für die Wohltat der Existenz? Wie soll man die rechte Mitte finden zwischen Furcht und der Hoffnung, die für das Heil unerläßlich sind? Was ist das Zeichen der Gnade?« und so weiter.

Monsieur Jeufroys Antworten waren einfach: »Quälen Sie sich nicht. Wer alles ergründen will, der wandelt an einem gefährlichen Abgrund.« - Gustave Flaubert, Bouvard und Pécuchet. Zürich 1979  (zuest 1881)

Vergeistigung (4)

Vergeistigung (5) Auch dank der teutonischen Struktur der Toiletten mit ihrer zauberhaften Auffangfläche, die unsere Substanzen einrahmt und zurückhält, bevor sie in den wilden Abgrund der Abflußöffnung verschwinden, habe ich die Beschaffenheit, die Färbung und die Form meiner morgendlichen Ausscheidungen seit Beginn meiner neuen Diät kontrolliert. Ich denke, ich kann sagen, daß Sie recht haben. Die Farbnuancen und sogar die feinen Äderungen meines Stuhls vergeistigen sich sozusagen von Tag zu Tag mehr.  - Mario Fortunato, Die Kunst leichter zu werden. Berlin 1997
 
Geist
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