erfall, halber In Paraguay hatte mir eine Pflanze gefallen, die ihre kecke Nase zwischen den Pflastersteinen der Stadt hervorstreckt, als sollte sie im Auftrag des unsichtbaren, aber allgegenwärtigen Urwalds einmal ausschauen, ob die Menschen immer noch die Stadt bewohnten, oder ob der Augenblick schon gekommen wäre, alle die Steine zu stürzen und zu überwuchern. Solcher halber Verfall, ein Zeichen von übergroßem Reichtum, beeindruckte mich. Hier kam ich noch mehr auf meine Kosten. Alles war köstlich verfallen wie ein moosbedeckter, vom Alter rissiger Baum, wie eine Holzbank, auf der schon zehn Generationen von Liebespaaren gesessen haben. Die Täfelungen klafften, die Tür- und Fensterflügel hingen schief und die Stühle waren krumm. Wenn man aber auch nichts ausbesserte, so wurde doch gescheuert, und nicht schlecht. Alles war sauber, geputzt und glänzend. Das Empfangszimmer hatte einen Charakterkopf wie eine alte Frau mit eigenartig geprägten Runzeln. Risse in den Wänden, Spalten an der Decke, alles gefiel mir. Und mehr als alles andere die Fußbodendielen, die stellenweise eingesunken waren, stellenweise schwankten wie ein Laufsteg; aber sichtlich waren sie regelmäßig gewachst, gebohnert und geflimmert worden. Nichts wirkte in diesem wunderbaren Hause vernachlässigt oder unordentlich, alles war achtunggebietend gepflegt. Dieser Reiz mußte von Jahr zu Jahr zunehmen, und von Jahr zu Jahr wurde dieses Gesicht sicher geprägter und eigenwilliger, die freundliche Luft wärmer; , freilich wurde die Reise vom Empfangszimmer zum Eßzimmer auch immer gefährlicher. „Geben Sie acht!"
Da war ein Loch. Mein Gastgeber machte mich darauf aufmerksam, daß ich mir
in einem solchen Loch leicht die Beine brechen könnte. Weiter verlor man kein
Wort. Denn an dem Loch hatte niemand schuld außer der Wirkung der Zeit. Diese
herrliche Verachtung jeder Entschuldigung wirkte unglaublich vornehm. Niemand
sagte hier: „Wir könnten ja die Löcher zumachen lassen, an Geld fehlt es nicht,
wohl aber. .." Niemand sagte mir, was doch die reine Wahrheit gewesen wäre:
„Wir haben dieses Haus von der Stadt auf dreißig Jahre gemietet. Der Hauswirt
müßte die Ausbesserungen bezahlen. Hier will aber niemand zuständig sein, und
keiner will nachgeben." In diesem Haus standen die Leute hoch über solchen
Erklärungen mit einer geradezu hinreißenden Selbstverständlichkeit. Höchstens
sagte einmal einer oder der andere zu mir: „Es ist ein bißchen verfallen, wissen
Sie." Aber das sagte man so leicht hin, daß ich vermuten mußte, daß dieser
Zustand meinen neuen Freunden nicht zu Herzen ging. Sie wollten gar keine Kolonne
von Maurern, Zimmerleuten, Tischlern und Stuckarbeitern, die in
ein paar Tagen das Haus umbauten, daß es kaum wiederzuerkennen war
und man sich bei sich selbst zu Besuch fühlte. Ein Haus ohne Geheimnisse, ohne
Falltüren, ohne Schlupfwinkel, ohne eine eiserne Jungfrau, die sich plötzlich
vor einem öffnete, das war kein Haus, das war der Festsaal im neuen Rathaus.
- Antoine de Saint-Exupéry, Wind, Sand und Sterne.
Düsseldorf 1976 (zuerst 1939)
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