erfall   Mein Vater verfiel allmählich, welkte in den Augen. Zusammengekauert unter den großen Kissen, mit wild gesträubten grauen Haarbüscheln, redete er halblaut mit sich selber, ganz versunken in allerlei verworrene innere Affären. Man konnte meinen, daß seine Persönlichkeit in viele miteinander entzweite und auseinanderlaufende Ich zerfallen war, denn er zankte laut mit sich selber, verhandelte angestrengt und leidenschaftlich, überzeugte und bat und schien dann wieder einer Versammlung vieler Geschäftsleute vorzusitzen, die er mit dem ganzen Vorrat seiner Inbrunst und Überredungskunst miteinander zu versöhnen trachtete. Doch jedesmal zerbarsten diese lärmenden Versammlungen, voll von heißen Temperamenten, am Ende unter Flüchen, Verwünschungen und Schimpfworten.

Dann folgte eine Zeitspanne der Beruhigung, der inneren Besänftigung und der wohltuenden Heiterkeit des Geistes. Abermals wurden große Folianten auf dem Bett, auf dem Tisch und auf dem Fußboden ausgebreitet, und ein schier benediktinischer Arbeitsfriede lag im Schein der Lampe über dem weißen Bettzeug des Lagers und über dem geneigten grauen Kopf meines Vaters.

Wenn aber die Mutter am späten Abend aus dem Laden heraufkam, wurde mein Vater lebendig, rief sie zu sich heran und zeigte ihr stolz die glänzenden bunten Abziehbilder, mit denen er emsig die Seiten des Hauptbuchs beklebt hatte.

Wir merkten damals schon alle, daß der Vater von Tag zu Tag kleiner wurde und zusammenschrumpfte wie eine Nuß, die in ihrer Schale eintrocknet.

Dieser Schwund wurde keinesfalls vom Kräfteverfall begleitet. Im Gegenteil, sein Gesundheitszustand, die Laune und die Regsamkeit schienen sich zu bessern. Er lachte jetzt oft laut und zwitschernd, hüpfte geradezu vor Lachen oder klopfte auch ans Bett und antwortete sich selber »Herein!« - in verschiedenen Stimmlagen, stundenlang. Von Zeit zu Zeit kroch er aus dem Bett, kletterte auf den Schrank hinauf und kramte, unter der Zimmerdecke zusammengekauert, in allerhand altem Plunder voller Rost und Staub. - Bruno Schulz,  Heimsuchung. In: (bs)

Verfall (2)  Hier ist eine Tatsache zu erwähnen, von der man erst kürzlich mit Verwunderung Kenntnis genommen hat: daß nämlich die ersten photographischen Porträts an individuellem Charakter den heutigen weit überlegen sind. In manchen dieser Bilder spricht sich die Stimmung von Gemälden aus, in einer Weise, die die Grenzen zwischen Kunst und Technik verwischt. Man hat dies durch Unterschiede im Verfahren zu erklären versucht, durch Unterschiede etwa, wie sie zwischen Hand- und Maschinenarbeit bestehen: und auch dies trifft zu.

Der übergeordnete Befund ist jedoch der, daß der Lichtstrahl zu jener Zeit noch auf einen individuellen Charakter von weit größerer Dichte traf, als dies heute möglich ist. Dieser Charakter, der sich selbst in den kleinsten Gebrauchsgegenständen spiegelt, die uns erhalten geblieben sind, verleiht auch jenen Bildern ihren besonderen Rang. Der Verfall der individuellen und der gesellschaftlichen Physiognomie, wie ihn die Malerei behandelt, ist dann auch am Lichtbilde zu verfolgen; er führt bis zu einer Stufe, auf der die Betrachtung von Schaukästen, wie sie Photographen in den Vorstädten aushängen, zum gespenstischen Erlebnis wird. - Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Stuttgart 1982 (Cotta's Bibliothek der Moderne 1, zuerst 1932)

Verfall (3)  Ein Mann zu sein, der nicht mehr im Rennen ist, für den sich das Glücksrad gedreht hat und dem nichts anderes mehr übrigbleiben wird, als bis zu den untersten Stufen der Treppe des Alters hinabzusteigen, also das zu sein, was Antonio Bienvenida unter »nichts mehr« verstand, ist immer noch sehr viel. Der endgültige Verfall - den alle Künstler, die sich diesem Gedanken aussetzen, als Vorstellung anerkennen müssen - besteht strenggenommen darin:

nicht einmal mehr in der Erinnerung zu leben;
weder hinter den eigenen Augen noch in der Höhlung der eigenen Ohren Herberge zu finden;
noch einsamer als einsam zu sein;
seinen Blick nicht mehr auf ein Morgen, ein Heute oder ein Gestern richten zu können;
aller Schulden ledig zu sein, da alles zurückerstattet wurde;
nachdem man dem Zifferblatt der Uhr entgangen ist, in der weißen, gegenseitigen Verneinung aller Farben jene unbefleckte Unschuld wiederzufinden, in der man nur existieren kann, wenn man - nicht einmal dem Dorftrottel vergleichbar - nichts weiß, nichts tut und nichts erleidet;
hypothetisch, nur aus den Kulissen heraus zu sprechen oder besser in wie auch immer gearteten Spuren in der Vergangenheit - solange es noch eine gibt;
seinen Ausdruck nur noch in Archiven zu finden (die, ihrerseits Asche, eines Tages nicht einmal mehr Gegenstand des Vergessens sein werden);
sehr bald aus einem Blickwinkel betrachtet zu werden, gegen den man sich als Lebender verwahrt hätte (so wie ein Karpfen, den Kaninchen beurteilen sollen), und dann mangels eines Blicks überhaupt nicht mehr betrachtet zu werden;
stufenweise zu verfallen, das Ende wäre die Abwesenheit jedes verständlichen Restes, die von dem Fehlen eines Wesens, das irgend etwas begreift, begleitet würde.

Der endgültige Verfall bestünde also darin, weder durch sich selbst noch durch die Vermittlung anderer zu existieren. Man befände sich sowohl außerhalb des Verbs sein als auch des Wortes außerhalb und somit jenseits des gesamten Räderwerks der dann außer Kraft gesetzten Sprache. Da wären nicht einmal mehr Schreie, Brosamen gebrochener Worte, ein Dröhnen und Jaulen, das im Dschungel der Elektronik empfangen würde, wenn es noch irgendwo jemanden gäbe, der etwas aussenden könnte. Ein Punkt wäre erreicht, der jeder Ortsbezeichnung widersteht; der Versuch, ihn zu beschreiben, ist mit dem Wunsch gleichzusetzen, ihm zumindest auf abstrakte Weise Herr zu werden. Nur eine Null könnte ihn benennen - Phantom-Waffe einer Geisterstadt -, eine Null, der man sowohl ihre Silbe als auch den Kreis, der ihr Bild zeichnet, entzogen hat. Durch den allzu hellsichtigen Abschied von der Männlichkeit und (damit der dann weniger einschneidenden Schwelle des Todes etwas von ihrem Schrecken genommen werde) von den folgenden Ausdrucksformen des Diesseits wird ein langer Weg eingeleitet

- so vom nach und nach eintretenden Verlust all derer, die uns ohne viele Worte verstanden,
von der Verwandlung dessen, was wir als Neuheit liebten (oder praktizierten), in verstaubte Folklore,
von der Zersetzung der Sehnsucht, die wie eine Mumie in Binden gewickelt oder (worauf auch immer sie abzielt) von ihren tiefen Beweggründen abgeschnitten wurde,
vom körperlichen Verfall,
von einem Zerbröckeln, das im eigenen Kopf beständig neue Risse verursacht, von denen man ängstlich erwartet, daß sie sich wieder schließen mögen (so das Loch, das ein vergessener Name gegraben hat, das Entfliehen eines Wortes, das nicht rechtzeitig wiederkehrt, um das zu sagen, was gesagt werden mußte), von den wie auf Sparflamme brennenden Augen, die unfähig sind, etwas unmittelbar aufzunehmen - sie bemächtigen sich weniger der Dinge, als daß sie eine Distanz zu ihnen schaffen, einen Schleier zwischen uns und die Gegenstände schieben -, von den Lidern, die schwer sind von einem immer verdächtiger werdenden Schlaf, vom eingerosteten Denken, das nur noch ruckweise funktioniert und uns ahnen läßt, daß es bereits am Rande der völligen Blockierung steht -   - Michel Leiris, Leidenschaften. Frankfurt am Main 1992 (Fischer-Tb. 10560)

 

Auflösung Sterben

 

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Zerfall